4.3.3 Strategie für CC-Bindungen

An dieser Stelle sollen Algorithmen beschrieben werden, die WODCA verwendet, um strategische CC-Bindungen zu ermitteln. Offensichtlich ist, das zur Planung organischer Synthesen gerade solche Strategien gefragt sind, um komplexere Verbindungen in einfachere Vorstufen zu zerlegen. Das Arsenal des organischen Chemikers zur Knüpfung von CC-Bindungen ist immens. Hier sollen daher einige sinnvolle Einschränkungen vorgenommen werden:

o

o o Der letzte Punkt bedarf eines Kommentars: Eine Beschreibung eines Reaktionszentrums durch eine Substruktur ist mit letzterer auf eine genau bestimmte Menge an molekularen Merkmalen begrenzt. Das ist erwünscht, denn die geforderten strukturellen Merkmale sind ja gerade die Voraussetzung für eine bestimmte Reaktion. Andererseits gibt es viele Reaktionen, die Gruppen mit bestimmten Eigenschaften in Nachbarschaft des Reaktionszentrums erfordern, etwa elektronenziehende Gruppen. Solche Gruppen können aber vielgestaltig sein, so daß die notwendige Substruktur, die alle diese Gruppen erfassen soll, sehr kompliziert wird. Demgegenüber sollten geeignete meßbare (d. h. hier: berechenbare) physikochemische Parameter unabhängig von den tatsächlich vorhandenen Nachbargruppen signalisieren, ob etwa elektronenziehende Eigenschaften vorhanden sind oder nicht. Die Substruktur als Schlüssel zur Prognose einer Reaktion sollte daher durch einen geeigneten Satz an physikochemischen Parametern ersetzbar sein.

Um die Verwendbarkeit eines solchen Ansatzes zu untersuchen, wurde als Reaktionstyp die Michael-Addition ausgewählt. Diese von dem Amerikaner Arthur Michael 1887 erstmals beschriebene Reaktion [109], bei der eine durch elektronenziehende Gruppen aktivierte CH-acide Verbindung (Methylen-Komponente) eine ebenfalls aktivierte (elektronenarme) Olefinkomponente nucleophil angreift (siehe Schema in Abb. 4 - 11), ist eine breit anwendbare, gut untersuchte Aufbaureaktion von CC-Bindungen [110], [111], [112], [113].

Abb. 4 - 11

Schematischer Verlauf einer Michael-Addition (Syntheserichtung).


Für die Syntheseplanung unter den oben genanntem Bedingungen besteht dann die Aufgabe darin, Michael-Typ-Bindungen im Syntheseziel zu erkennen. Neben der Identifikation solcher Bindungen müssen außerdem Methoden zur Absättigung der durch den retrosynthetischen Bindungsbruch entstehenden offenen Valenzen definiert werden. In diesem Fall muß ein H-Atom auf der Seite der Methylen-Vorstufe addiert werden. Im anderen Fragment muß in -Position zur Bruchstelle ein H-Atom entfernt werden, damit die olefinische Vorstufe gebildet werden kann (siehe Abb. 4 - 12). Und schließlich ist der Bindungsbruch mit einer Bewertung zu versehen, um verschiedene Vorschläge an strategischen Bindungen gegeneinander abwägen zu können.

Abb. 4 - 12

Schritte der retrosynthetischen Analyse. 1.) Identifikation der strategischen Bindung; 2.) Absättigung offener Valenzen nach dem Bindungsbruch. Schließlich muß auch eine Bewertung vergeben werden. Die kursiven Zahlen an den Atomen links bezeichnen die C-Atome des Reaktionszentrums.


Zur Erstellung eines Modells für die retrosynthetische Analyse von Michael-Additionen sind dann Beispielreaktionen erforderlich. Um einen solchen, möglichst umfangreichen und variantenreichen Fundus zu erhalten, kann auf Reaktionsdatenbanken zurückgegriffen werden. Das im folgenden beschriebene Modell wurde anhand von 84 Michael-Reaktionen erstellt, die aus der ChemInform Reaktionsdatenbank [114], [115] stammen. Diese Reaktionen waren Teil eines 120 Reaktionen umfassenden Datensatzes, der für eine Studie zur automatischen Klassifizierung von Reaktionen [116] vom FIZ Chemie Berlin zur Verfügung gestellt wurde. Sämtliche 120 Reaktionen haben als gemeinsames Merkmal ein übereinstimmendes Reaktionszentrum1. Jedoch ist das allein nicht ausreichend für eine Michael-Addition. Auch Friedel-Crafts-Alkylierungen mit Olefinen oder radikalische Additionen an Olefine haben das gleiche Reaktionszentrum. Die 84 Michael-Additionen wurden durch manuelle Inspektion als solche klassifiziert.2

Es wurden dann zunächst Untersuchungen angestellt, welche WODCA zur Verfügung stehende physikochemische Größen (siehe Abschnitt 3.2.3) die durch die Michael-Addition entstandene Bindung im Reaktionsprodukt am besten beschreiben. Die folgende Abbildung veranschaulicht den Hintergrund der verschiedenen Werte. Die atomspezifischen Werte lassen sich als Differenzen (Ladungen, Elektronegativitäten) bzw. Mittelwerte (Polarisierbarkeiten) auch auf die Bindung projizieren. Für die Abschätzung des Mesomerieeffektes wird ein heterolytischer Bindungsbruch angenommen. Für das dann positiv geladene Atom wird abgeschätzt, wie diese Ladung durch benachbarte Gruppen mittels Mesomerie stabilisiert werden kann. Gleiches findet auch für die negative Ladung statt. Das Berechnungsmodell entspricht daher den Vorstellungen des Chemikers über die Synthone3 für eine Reaktion, bei der heterolytische Bindungsbrüche erfolgen. Diese Werte können natürlich für alle Bindungen/Atome eines Moleküls berechnet werden. Eine auf ihrer Grundlage identifizierbare strategische Bindung muß sich daher durch deren Werte klar von weniger interessanten Bindungen abgrenzen lassen.

Abb. 4 - 13

Physikochemische Parameter des WODCA Systems am Beispiel der bei einer Michael-Addition entstehenden CC-Bindung.


Wie aus Abbildung 4 - 13 ersichtlich ist, beschreiben die Parameter , und die Synthonpolarität4 eines Michael-Angriffs. Es kann daher erwartet werden, daß diese Größen auffällige Werte für die gesuchte strategische Bindung annehmen. Das bestätigt die Darstellung in Abbildung 4 - 14. Die -Werte variieren in einem nach oben offenen Bereich; als untere Grenze kann 18.0 identifiziert werden. Dann werden aus typischen Michael-Reagenzien (1,3-Dicarbonylverbindung und ,-ungesättigte Carbonylverbindung) resultierende Produkte sicher erkannt. Interessant sind die darunter liegenden Reaktionen (siehe Abb. 4 - 15). Das sind zum einen drei Reaktionen mit Chloroform als CH-acider Komponente (RXCI91143164/5/6) und eine weitere Reaktion (RXCI91124495), bei der das Michael-Produkt in der Enolform codiert ist (63). Wird statt der Enolform die Ketoform (64) analysiert, resultiert ein -Wert von über 19, d. h. ein Wert, der oberhalb des gewählten Limits liegt. Im ersten Fall wird die Gesamtstabilisierung ausschließlich durch mesomere Effekte begründet, die auf der Seite der positiven (Synthon-)Ladung wirken. Delokalisierung der negativen Ladung durch die drei Chloratome ist nicht möglich. Der entsprechende Delokalisierungsparameter () ist daher in solchen Fällen Null. Gleichwohl stabilisieren die Halogensubstituenten eine negative Ladung jedoch durch induktive Effekte. Darauf wird gleich noch einmal zurückgekommen. In Abbildung 4 - 14 sind einige Beispiele für Michael-Produkte für den entsprechenden Wertebereich der Gesamtdelokalisierung angegeben. Man erkennt, daß in allen Fällen elektronenziehende Gruppen am Atom 2 des Reaktionszentrums präsent sind. Vor allem steigern aber Gruppen in der Umgebung von Atom 1 des Reaktionszentrums, die positive Ladungen stabilisieren können, den Wert für die Gesamtdelokalisierung deutlich.

Abb. 4 - 14

Histogramm der D±-Werte der gewünschten Synthonpolarität einer Michael-Addition für die strategischen Bindungen des Datensatzes. Oben sind Produkte aus einigen Wertebereichen mit Kennzeichnung der strategischen Bindung durch Fettdruck dargestellt.


Abb. 4 - 15

Sonderfälle im Reaktionsdatensatz. Oben: Michael-Produkte, die durch Umsetzung von Chloroform als CH-acide Komponente entstehen. Unten: In der Enolform codiertes Produkt mit niedrigem D±-Wert für die strategische Bindung. Daneben der analoge Wert für die Ketoform.


Offensichtlich ist der D±-Parameter gut geeignet, eine Michael-Typ-Bindung in einem Syntheseziel als strategische Bindung zu erkennen. Damit dieses Modell zuverlässig arbeitet, muß jedoch auch geprüft werden, ob nicht etwa die Stabilisierung der umgekehrten Synthonpolarität von diesem Parameter höher bewertet wird. Tatsächlich ist das in einigen Reaktionen des Datensatzes der Fall (siehe Abb. 4 - 16).

Abb. 4 - 16

Michael-Produkte von Reaktionen, bei denen der D±-Wert der falschen Synthonpolarität höher ist als jener der korrekten Polarität. Die betroffenen Bindungen sind markiert.


Im Fall der Reaktionen RXCI91137126 und RXCI91137127 wird die Delokalisierungsstabilisierung einer negativen Ladung durch den Phenylring überschätzt. Der D--Wert liegt deutlich über dem D+-Wert. Bei Reaktion RXCI91177613 ist es umgekehrt: Hier wird der stabilisierende Einfluß der Umgebung des eigentlich elektrophil anzugreifenden Zentrums so eingeschätzt, daß dieses als nucleophil gilt. Die Reaktionen RXCI91143164/5/6, sind jene mit Chloroform als CH-acidem Reagenz. Die Reaktion RXCI91153390 schließlich ist ein Grenzfall: Der D±-Wert der falschen Synthonpolarität liegt nur geringfügig über dem der anderen Richtung (42.6 gegenüber 40.4). Offensichtlich wird die Situation am Michael-Reaktionszentrum durch mesomere Einflüsse allein nicht ausreichend beschrieben. Diese Reaktionen dienen daher als reduzierter Datensatz zur Ableitung eines Modells unter Einbeziehung induktiver Effekte.

Der Lösungsansatz basiert auf der Annahme, daß mesomerer und induktiver Effekt additiv zu einem Gesamteffekt führen5, der eine typische Michael-Situation beschreibt. Mesomere Effekte können ausgezeichnet durch den D±-Parameter beschrieben werden (siehe oben). Zur Beschreibung induktiver Effekte eignen sich mehrere Parameter, die letztendlich alle in einem gewissen Maße korrelieren (d. h. nicht linear unabhängig voneinander sind). Hier kommt die Differenz der -Atompartialladungen (q) als Deskriptor für die über eine Bindung wirkenden induktiven Effekte zur Anwendung. Um beide Deskriptoren (D± und q) für einen additiven Effekt nutzen zu können, muß wenigstens einer von beiden so skaliert werden, das ein korrekter Effekt errechnet wird.

Um Maßzahlen für diese kombinierten Effekte zu erhalten, wurden die Reaktionen des reduzierten Datensatzes (sieben Reaktionen, siehe Abb. 4 - 16) verwendet: Diese konnten nicht ausschließlich durch mesomere Effekte als Michael-Additionen erkannt werden, die Einbeziehung eines Deskriptors für induktive Effekte ist daher hier zwingend. Da bei diesen Reaktionen die entgegengesetzte, falsche Richtung des Bindungsbruchs unter alleiniger Berücksichtigung mesomerer Effekte bevorzugt werden würde, muß der induktive Effekt also mindestens einen Bonus für den korrekten Bindungsbruch in Höhe der Differenz der mesomeren Effekte für beide Richtungen ergeben.

Abb. 4 - 17

Erforderliche Korrekturen aufgetragen gegen die -Atompartialladungsdifferenz als Maß der induktiven Effekte. Die Gerade beschreibt eine einfache lineare Funktion, die zur Berechnung der Korrekturwerte aus den -Ladungsdifferenzen verwendet wird.


Wie Abbildung 4 - 17 zeigt, läßt sich offensichtlich ein Zusammenhang zwischen der -Ladungsdifferenz und gewünschten Korrekturwerten konstruieren, der hier vereinfachender Weise als linear angenommen wird. Der Punkt für Reaktion RXCI91177613 wird jedoch ausgenommen, da er extrem außerhalb liegt.

Aus diesen Betrachtungen läßt sich folgender Zusammenhang ableiten:

(4-1) GesamtEffekt(b) = f(b) + g(b)

mit

(4-2) f(b) = D±(b)

(4-3) g(b) = 77.5 q(b) + 1.0 für q(b) > 0 und
= 0 sonst

b Bindungsindex

f(b) Deskriptorfunktion für mesomere Effekte bezüglich Bindung b

g(b) Deskriptorfunktion für induktive Effekte bezüglich Bindung b

Mit diesem Ansatz resultieren für die Reaktionen des reduzierten Datensatzes (mit Ausnahme der Reaktion RXCI91177613) nun Werte für den Gesamteffekt an Stabilisierung von weit über 18.0 (dem ursprünglichen Grenzwert). Ein Test dieses Modells gegen den gesamten Datensatz der 84 Michael-Reaktionen bestätigt den Ansatz. In allen Fällen (mit Ausnahme der Reaktion RXCI91177613) wird nach Gleichung (4-1) die gewünschte strategische Bindung mit der korrekten Synthonpolarität erkannt.

Damit läßt sich der Algorithmus zur Identifizierung einer strategischen CC-Bindung in einem Zielmolekül definieren:

o

o o o Dadurch wird der Ort einer strategischen Bindung festgelegt. Die folgende Abbildung veranschaulicht dieses Vorgehen.

Abb. 4 - 18

Algorithmus zur Auswahl einer strategischen CC-Bindung und der Richtung des Bindungsbruchs am Beispiel der zentralen CC-Bindung einer Testreaktion. Diejenige Richtung, für die sich eine bessere Gesamtstabilisierung ergibt, wird ausgewählt. Das ist im Beispiel die unten dargestellte Richtung. Bindungen, die aus formalen Gründen nicht weiter untersucht werden sind grau dargestellt.


Nachfolgend muß nun der Algorithmus in der Lage sein, die durch den Bindungsbruch entstehenden offenen Valenzen so abzusättigen, daß geeignete Reagenzien entstehen. Für die Seite des negativ geladenen Synthons ist diese Aufgabe leicht durch Addition eines H-Atoms zu lösen. In Syntheserichtung wäre dieses H-Atom als Proton zu entfernen, es muß also in der Vorstufe eine gewisse Acidität besitzen. Acidität des addierten H-Atoms ist dann zu erwarten, wenn elektronenziehende Gruppen der Additionsstelle benachbart sind. Die elektronenziehende Wirkung kann wiederum durch mesomere Effekte oder starke induktive Effekte begründet sein. Beides wird mit Hilfe der oben beschriebenen physikochemischen Deskriptoren des Reaktionszentrums erkannt.

Komplizierter ist die Situation für das positive Synthon. Ein Chloratom wäre ein Repräsentant für eine Abgangsgruppe, die ein positiv geladenes Synthon erzeugt. Das entsprechende Edukt einer Michael-Addition ist jedoch eine elektronenarme Olefinkomponente. Um diese zu erzeugen, muß (aus retrosynthetischer Sicht) ein H-Atom in -Position zur positiven Synthonladung entfernt werden. Damit ergibt sich im Programm durch Rekombination eine Doppelbindung in der Vorstufe. Damit solche Doppelbindungen nur dann gebildet werden, wenn es für die Syntheserichtung erforderlich ist (d. h. hier: wenn der strategischen Bindung tatsächlich eine Michael-analoge Umsetzung zugrunde liegt), muß erneut nach einem physikochemischen Parameter gesucht werden, der dieses Vorgehen signalisiert.6

Ein solcher Parameter läßt sich mit den Erfahrungen zur Auswahl der strategischen Bindung unschwer finden: Da der Doppelbindung im Edukt elektronenziehende Gruppen benachbart sein müssen und diese Gruppen auch im Produkt unverändert vorhanden sind, sollte der Delokalisierungsparameter D- über eine CH-Bindung in -Position zur positiven Synthonladung durch entsprechende Werte eine solche Situation diagnostizieren können (siehe Abb. 4 - 19). Tatsächlich finden sich ausgezeichnete D--Werte für die CH-Bindungen in -Position. Als ausreichender Grenzwert wurde 11.0 ermittelt. Damit wird sicher das Vorhandensein elektronenziehender Gruppen erkannt. Im Datensatz sind eine Reihe solcher Gruppen vertreten: Carbonsäureester, Ketone, Nitrogruppen, Sulfinyl- und Sulfonylgruppen, Phosphite - manche davon konjugiert zu Aromaten. Der Parameter beschreibt also eine große chemische Bandbreite. Dieses Maß kommt auch bei der Olefin-Strategie für Amine zur Anwendung (siehe Abschnitt 4.3.2 Seite 103).

Abb. 4 - 19

Oben rechts: Topologische Position der CH-Bindung, deren D--Wert die Anwesenheit von elektronenziehenden Gruppen in der Nachbarschaft signalisiert. Darunter das bewertete Ladungsmuster. Unten: Verteilung dieser Werte im Datensatz der 84 Michael-Additionen mit Beispielreaktionen.


Damit der Algorithmus zur Ableitung von Vorstufen nicht auf Michael-typische Situationen beschränkt bleibt, werden in Fällen, wo zwar induktive und mesomere Effekte auf eine strategische Bindung hindeuten, die Umgebung der Bindung aber nicht Michael-konform ist7, einfache Alternativen angewendet.

Auf der Seite der negativen Ladung des Synthons wird dann, wenn keinerlei Stabilisierung durch mesomere Effekte vorhanden ist (D--Parameter ist Null) und induktive Effekte allein zu gering ausfallen (meßbar durch die Ladungsdifferenz q) ein Brom-Atom statt Wasserstoff addiert. Ein H-Atom wäre in solchen Fällen nicht acid genug für einen nucleophilen Angriff. Atome mit geringerer Elektronegativität als Wasserstoff (Metallorganyle) stellen jedoch die Bildung eines Carbanionen-Synthons sicher. Diese Metallorganyle werden aber aus den korrespondierenden Halogenverbindungen hergestellt. Da WODCA die Syntheseplanung hin zu Ausgangsmaterialien forcieren soll, wird durch die direkte Generierung der Brom-Verbindung ein Syntheseschritt übersprungen. Es obliegt dem Chemiker zu erkennen, daß die Brom-Vorstufe in ihr Metallorganyl überführt werden muß, damit die beabsichtigte Bindungsknüpfung vonstatten gehen kann.8

Fehlen elektronenziehende Gruppen in der Nachbarschaft des positiv geladenen Synthons oder fehlt ein abspaltbares H-Atom in -Position, wird ein Chloratom als Äquivalent für eine negative Abgangsgruppe addiert. Die Ähnlichkeitssuchen des voranstehenden Kapitels können mit solchen Vorstufen leicht Beziehungen zu anderen analogen Reagenzien herstellen.

Als letzte Teilaufgabe verbleibt für eine Retrosynthesefunktion in WODCA die Vergabe einer Bewertung für verschiedene strategische Bindungen (siehe Abschnitt 4.1). Das ist hier unschwer möglich. Es wird dazu der nach Gleichung (4-1) modellierte Gesamteffekt an mesomerer und induktiver Stabilisierung eines heterolytischen Bindungsbruchs herangezogen. Wie bei der Retrosynthesefunktion für CX-Bindungen (vgl. Abschnitt 4.3.2 Seite 100) werden die Bewertungen am Ende skaliert, so daß die beste Bewertung bei 100 liegt. Vorher werden aus dem Satz an strategischen Bindungen topologisch völlig identische Dubletten entfernt. Die Zahl der Vorschläge soll damit auf ein notwendiges Maß reduziert werden.

Nachfolgend soll nun an einigen Beispielen die Anwendung der oben beschriebenen Funktion demonstriert werden. Dabei ist es besonders interessant zu prüfen, ob der Algorithmus auch bei Verbindungen verwendet werden kann, die Gruppen enthalten, die nicht im Modelldatensatz enthalten waren.

Eine ungewöhnliche elektronenziehenden Gruppe zur Aktivierung der olefinischen Komponente einer Michael-Addition stellen Bimane9 (1,5-Diazabicyclo[3.3.0]octa-3,6-dien-2,8-dione) dar. Abbildung 4 - 20 stellt ein durch Michael-Addition synthetisierbares Biman-Derivat (65) dar. WODCA identifiziert mit obiger Retrosynthesefunktion mehrere strategische Bindungen.10 Das mit jeweils 68 bewertete strategische Bindungspaar entspricht einer doppelten Michael-Addition (siehe resultierende Vorstufen in Abb. 4 - 20). Das beweist, daß die Retrosynthesefunktion auch andere als die elektronenziehenden Gruppen des Modelldatensatzes behandeln kann. Interessant sind auch die anderen strategischen CC-Bindungen. Wendet man zusätzlich die Retrosynthesefunktion aus Abschnitt 4.3.2 an (Suche nach strategischen CX-Bindungen), werden weitere Bindungen als strategisch identifiziert. Wird ein geeigneter Satz an Kombinationen von strategischen Bindungen ausgewählt und retrosynthetisch gebrochen, resultieren unmittelbar Reagenzien bzw. Reagenzienäquivalente, die tatsächlich für die Synthese von Bimanen eingesetzt werden [118] (siehe Abb. 4 - 22): Durch Claisen-Kondensation von zwei Molekülen Propansäureester (66) entsteht der -Ketoester (67). Dieser wird mit Hydrazin zum 3-Ethyl-4-methyl-5-pyrazolinon (68) kondensiert und über zwei weitere Schritte zum 4,6-Diethyl-3,7-dimethyl-biman (69) umgesetzt. Bromierung und anschließende Eliminierung resultieren im erforderlichen Michael-Olefin (70), das mit dem entsprechenden Malonsäureester (71) umgesetzt wird. Das Syntheseziel entsteht daraus durch Decarboxylierung.

Ähnlichkeitssuchen sind mit den für diese Synthese notwendigen Reagenzien nicht notwendig. Propansäureester (66), Hydrazin und Malonsäureester (71) können als identische Verbindungen im Fluka-Katalog gefunden werden.

Abb. 4 - 20

Syntheseziel Biman-Derivat (links) mit Atomindizierung im Heterocyclus. In der Mitte sind die strategischen CC-Bindungen markiert, die von WODCA identifiziert werden. Die Zahlen geben die zugeordnete Bewertung an. Rechts unten sind die aus dem Bruch eines Bindungspaares (bewertet mit je 68) resultierenden Vorstufen dargestellt. Dieser retrosynthetische Schnitt entspricht einer Michael-Addition in Syntheserichtung.


Abb. 4 - 21

Retrosynthetischer Bruch mehrerer (manuell kombinierter) strategischer Bindungen und daraus resultierende Synthesebausteine. Mit CC gekennzeichnete strategische Bindungen wurden von der in diesem Abschnitt beschriebenen Retrosynthesefunktion ermittelt, die mit CX gekennzeichneten durch die Algorithmen des Abschnitts 4.3.2.


Abb. 4 - 22

Publizierter Syntheseweg für das Biman-Derivat [118].


Ein zweites Beispiel untersucht ein -Sultam-Derivat (72, siehe Abb. 4 - 23). Für diese Verbindungsklasse wurde vermutet, daß sie als Thromboxan-A2-Rezeptorantagonisten einsetzbar wären [119]. Auch hier war eine Michael-Addition ein Schlüsselschritt bei der Darstellung dieser Verbindungen. Die hier getestete Verbindung ist eine direkte Vorstufe eines -Sultams. Zunächst werden strategische CX-Bindungen gesucht. WODCA identifiziert die Esterbindungen und die phenolische CO-Bindung als strategisch. Letztere und eine der beiden Esterbindungen werden retrosynthetisch gebrochen.

Abb. 4 - 23

Anwendungsbeispiel -Sultam-Derivat. Von den gefundenen drei strategischen CX-Bindungen werden zwei gebrochen und Vorstufen generiert.


Für den aliphatischen C2-Baustein (73) können sofort mit einer selektiven Ähnlichkeitssuche Ausgangsmaterialien ermittelt werden. Hier kommt das Kriterium Element- und ZHn-Austausch" zum Einsatz. Die geeignetsten Ausgangsmaterialien Chlor- bzw. Bromessigsäure sind in der von Duplikaten befreiten Liste von 20 Verbindungen leicht auszumachen (73 und 75, siehe Abb. 4 - 24).

Abb. 4 - 24

Ähnlichkeitssuche mit Chloressigsäure im Fluka-Katalog mit dem Kriterium Element und ZHn-Austausch". Duplikate sind entfernt. Es resultieren 20 Treffer.


Die Suche nach strategischen CC-Bindungen in der verbliebenen Vorstufe (74) ergibt zwei Vorschläge (siehe Abb. 4 - 25). Beide entsprechen einer Michael-Addition wie die Vorstufen zeigen, die beim Bindungsbruch generiert werden. Die höher bewertete strategische Bindung korrespondiert mit einer publizierten Synthese [120]. Für die dabei resultierenden Vorstufen Vinylsulfonylchlorid (76) und 4-Hydroxy-phenylessigsäureamid (77) können dann mit Hilfe der Transformationssuchen leicht Ausgangsmaterialien ausgewählt werden. Für Vinylsulfonylchlorid ermittelt das Ähnlichkeitskriterium C-Skelett einschließlich -Atome" zwei Treffer im Fluka-Katalog. Eine klassische Substruktursuche findet ebenfalls zwei Treffer (beide Listen siehe Abb. 4 - 26). Die zweite Vorstufe bereitet ebenfalls keine Probleme: Eine Ähnlichkeitssuche basierend auf dem Substitutionsmuster (-AR+A1-CCMB+BO+MU) ermittelt 15 Treffer ohne Duplikate. Wird der phenolische Substituent nicht generalisiert (-AR-A1-CCMB+BO+MU), reduziert sich diese Liste auf nur acht Verbindungen (in Abb. 4 - 27 markiert mit ). Als Alternativen können auch die Hydrolyse-Kriterien verwendet werden. Wird die Hydrolyse der phenolischen Gruppe gestattet, resultieren neun Treffer (markiert mit ), andernfalls nur drei (markiert mit ). Diese letzte Liste läßt den Anwender unschwer das Ausgangsmaterial der Wahl erkennen: 4-Hydroxy-phenylessigsäure-methylester (76).

Abb. 4 - 25

Strategische CC-Bindungen in der zweiten Vorstufe. Rechts und links unten die resultierenden Reagenzien nach Bruch dieser Bindungen. Die gleichzeitig zu brechenden CH-Bindungen sind in der Zielverbindung aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht dargestellt.


Abb. 4 - 26

Suche nach Ausgangsmaterialien für Vinylsulfonylchlorid. Oben das Resultat einer Ähnlichkeitssuche mit dem Kriterium C-Skelett einschließlich -Atome", unten das Ergebnis einer Substruktursuche. Die benutzte Substruktur ist unten links dargestellt.


Abb. 4 - 27

Transformationssuchen mit 4-Hydroxy-phenylessigsäureamid (unten) im Fluka-Katalog. Die abgebildeten 15 Treffer resultieren mit dem Kriterium Substitutionsmuster (-AR+A1-CCMB+BO+MU)". Die Markierungen sind im Text erläutert.


Abb. 4 - 28

Der Syntheseplan für das -Sultam-Derivat (72). Die umrahmten Verbindungen sind die von WODCA identifizierten Ausgangsmaterialien.






1
Unter dem Reaktionszentrum wird der minimale Satz an Atomen und Bindungen verstanden, an denen im Verlauf der Reaktion Veränderungen eintreten.
2
Wenn im folgenden Bezug auf einige dieser Reaktionen genommen wird, werden die eindeutigen, von Molecular Design Ltd. für jeden Datenbankeintrag vergebenen Bezeichnungen verwendet. Diese haben die allgemeine Form RXCI91nnnnnn. Das identifiziert die ChemInform (CI) Reaktionsdatenbank (RX) des Datenbankjahrgangs 1991 (91). Die sechsstellige Ziffer danach bezeichnet den Eintrag eindeutig.
3
Gemeint sind damit die eigentlich reagierenden Spezies.
4
Bei der Michael-Addition greift ein Carbanion in Position 2 eine positivierte Doppelbindung in Position 1 an (Ziffern bezeichnen die Atome des Reaktionszentrums, siehe Abb. 4 - 12).
5
Die Additivität ist natürlich eine Vereinfachung. Sie erweist sich jedoch als nicht kritisch zur empirischen Beschreibung des vorliegenden Problems.
6
Man könnte alternativ auch die Nachbarschaft des Reaktionszentrums nach Gruppen mit solchen Eigenschaften absuchen. Jedoch ist eine solche Substruktursuche langsamer und auch unvollständiger als es die Berechnung eines geeigneten physikochemischen Deskriptors ist.
7
Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn es kein H-Atom am Atom 3 des Reaktionszentrums gibt.
8
Der Anwender erhält insofern eine Hilfestellung, da Brom per Konvention als Markeratom für umzupolende Reaktivität verwendet wird. Repräsentiert das Halogen eine negative Abgangsgruppe, wird vom Programm immer Chlor verwendet.
9
Der Name leitet sich von bi - zwei und manus - Hand ab [117].
10
Topologisch äquivalente Bindungen sind hier nicht entfernt worden.