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6.9. Kinetik

Möchte man zusätzlich zur Generierung der Reaktionen auch die Konzentrationen der Edukte und Produkte berechnen, wird von den Regeln eine Variable vom Typ double unter dem Namen reactivity an das Kernsystem von EROS7 übergeben, die für die kinetischen Berechnungen verwendet wird. Ist eine Reaktion abgeschlossen, steht in ihr die Geschwindigkeitskonstante bzw. die Reaktionswahrscheinlichkeit. Man kann zwischen zwei verschiedenen Arten der kinetischer Berechnungen wählen. Mit den Werten der Reaktivität werden automatisch die Differentialgleichungen bzw. die Gleichungen mit den Reaktionswahrscheinlichkeiten für die Bildung und den Abbau der Verbindungen aufgestellt. Über die Integration dieser bzw. Lösung der Gleichungen für die Reaktionswahrscheinlichkeiten werden die Konzentrationen der Substanzen bestimmt. Für den vollen Umfang der kinetischen, mit EROS7 möglichen Berechnungen benötigt man für alle Reaktionen die Geschwindigkeitskonstanten. Stehen für die Bewertung der Reaktionen nur Reaktionswahrscheinlichkeiten zur Verfügung, können nur noch die Endkonzentrationen der Aggregate bestimmt werden. Für beide möglichen Kinetikmodelle wird dabei angenommen, daß das Volumen und die Temperatur der Reaktionsmischung sich nicht ändern. Zusätzlich können auch Vorgänge simuliert werden, bei denen die verschiedenen Produkte unterschiedliche Temperaturen besitzen, ihre Anregungsenergie aber nicht an andere Moleküle übertragen. Dies trifft beispielsweise auf die Moleküle in der Ionisationskammer eines Massenspektrometers zu, da hier ein Stoß mit einem zweiten Teilchen im betrachteten Zeitraum nahezu ausgeschlossen ist.

6.9.1. Kinetik mit Geschwindigkeitskonstanten

Hat man für alle Reaktionen eine Geschwindigkeitskonstante, kann man eine der drei verfügbaren Methoden zur Integration der Differentialgleichungen wählen: Gear-Algorithmus [58], Methode nach Runge-Kutta oder nach Runge-Kutta-Merson [59][60]. Der Gear-Algoritmus ist deutlich langsamer, aber robuster (siehe 7.1.2.1 und 7.1.3.1). Wird eine dieser Methoden gewählt, werden gleichzeitig mit der Erzeugung der Reaktionen auch die Differentialgleichungen für das Reaktionsnetzwerk aufgestellt. Ist das Aggregat A ein Edukt, gilt:

Mit dem Umsatz U pro Volumen

wobei z die Symmetriezahl und k die Geschwindigkeitskonstante der Reaktion sind.

Handelt es sich bei der Reaktion um einen Phasenübergang, gibt die Geschwindigkeitskonstante die Diffusion in die andere Phase an.

Ausgehend vom Stofftransport dni/dt für die Substanz i (siehe Formel 9) wird die Geschwindigkeitskonstante k berechnet (siehe Formel 10). Um die normalen Reaktionen und die Phasenübergänge gleich behandeln zu können, wird auch für die Phasenübergänge die Konzentrationsänderung dci,1/dt angegeben (V1 ist das Volumen der Phase, aus der die Substanz kommt, Di die Diffusionskonstante der Verbindung i, A die Größe der Phasengrenzfläche, d die Dicke der laminaren Grenzschicht und z die Symmetriezahl der Reaktion.):

Für die Diffusion durch beide Grenzschichten ergibt sich mit dem Verteilungskoeffizienten N=ci,2/ci,1 für k:

Für die Modellierung der Diffusion zwischen zwei Phasen wird für jede der beiden Diffusionsrichtungen ein Phasenübergang generiert.

Für die Flüsse in die und aus den Phasen werden die Stofftransporte automatisch den Differentialgleichungen hinzugefügt.

Die Ergebnisse der Integration sind bei allen drei Methoden der Konzentrationsverlauf der Aggregate in den Phasen eines Reaktors, das Integral der Konzentration über die gesamte Integrationszeit (Persistenz) sowie die Auf- und Abbauraten erster Ordnung der Verbindungen. Die Abbaurate kd erhält man, wenn man für eine Substanz nur deren Abbaureaktionen betrachtet und den Quotienten aus ihrer Konzentrationsänderung und der Anfangskonzentration berechnet (siehe Formel 12). Für kd ergibt sich dann bei Reaktionen erster Ordnung die Summe der Produkte von Symmetriefaktor und Geschwindigkeitskonstante erster bzw. pseudoerster Ordnung.

Etwas schwieriger gestaltet sich die Aufbaurate erster Ordnung kp. Sie ist bei der Betrachtung des Konzentrationsverlaufs der Verbindung die maximale Konzentrationssteigerung in Bezug auf das Produkt der Konzentrationen der Ausgangsmaterialien (siehe Formel 13). Hat man, wie bei der Simulation des Abbaus von Umweltchemikalien, nur ein Aggregat als Ausgangsmaterial, ist die Aufbaurate der Quotient der maximalen Konzentrationssteigerung und der Anfangskonzentration der Umweltchemikalie.

6.9.1.1. Ausschluß unbedeutender Reaktionen

Ist eine Kinetik angeschaltet, wird vor der Durchführung der Reaktionen eines oder mehrerer Edukte zunächst überprüft, ob ihre Konzentrationen einen festgelegten Schwellwert überschreiten. Um dies testen zu können, werden nach jeder Reaktionsebene die Konzentrationen aller Verbindungen berechnet. Die Konzentrationen werden so zu einem Zeitpunkt bestimmt, zu dem im Reaktionsnetzwerk noch keine Abbaureaktionen der Substanz enthalten sind. Die Konzentration, die zur Überprüfung herangezogen wird, ist also die maximal mögliche innerhalb der betrachteten Reaktionszeit. Um unbedeutende Reaktionen auszuschließen, werden nur für solche Edukte Reaktionen generiert, die die minimale Konzentration überschreiten.

6.9.1.2. Bestimmung der Integrationszeit

Für die Begrenzung der Integrationszeit, also die betrachtete Zeit, gibt es zwei Methoden: ist 1) die voreingestellte, maximale Reaktionszeit erreicht oder 2) eines der Ausgangsmaterialien zum eingestellten Prozentsatz umgesetzt ist. Da alle eingebauten Integrationsverfahren mit gleichmäßigen Intervallen arbeiten, muß vor der Integration die Reaktionszeit abgeschätzt werden, wenn sie durch den Abbau eines der Ausgangsmaterialien begrenzt ist. Deshalb ist die Genauigkeit, mit der die Reaktionszeit bis zum gewünschten Umsatz erreicht wird, von der Abschätzung der Reaktionszeit abhängig. Die Güte ist für die verschiedenen Methoden unterschiedlich.

6.9.1.3. Vergleich der Integrationsmethoden

Die Genauigkeit, mit der bei der Integration die Zeit getroffen wird, wenn sie durch den Abbau eines Ausgangsmaterials zu einem vorgegebenen Prozentsatz begrenzt ist, ist bei der Methode nach Runge-Kutta vierter Ordnung am größten. Der Gear-Algorithmus und die Methode nach Runge-Kutta-Merson erzielen eine leicht geringere Genauigkeit. Für alle drei Methoden sind aber die Abweichungen hinsichtlich des Integrationsabbruchs, wie auch der bestimmten Konzentrationsverläufe, viel kleiner als die, welche durch die Ungenauigkeit der angegebenen Geschwindigkeitskonstanten hervorgerufen werden. Normalerweise verwendet man eine Funktion, die für die verschiedenen erzeugten Reaktionen die Geschwindigkeitskonstanten liefert. Da diese oft mit einer multilinearen Regressionsanalyse oder ähnlichen, mittelnden Methoden gewonnen werden, sind die so bestimmten Werte auch mit Fehlern für einzelne Reaktionen behaftet.

Daß die beiden Methoden Runge-Kutta und Runge-Kutta-Merson neben Differentialgleichungen erster Ordnung auch Gleichungen zweiter Ordnung lösen können, spielt keine Rolle, da bei EROS7 nur Gleichungen erster Ordnung auftreten. (Gleichungen wie Formel 14 können nicht Bestandteil der Differentialgleichungen sein.)

Die Zeiten für die Lösung der Differentialgleichungen sind in der Praxis von erheblicher Bedeutung. In dieser Beziehung wird die Methode nach Runge-Kutta von den beiden anderen mit einer Berechnungszeit von nur einem Drittel deutlich geschlagen, wobei die Methode nach Runge-Kutta-Merson die schnellste ist. Dies wurde am Abbau von verschiedenen s-Triazinen bestimmt [61].

6.9.1.4. Ergebnisse am Beispiel vom Abbau des Herbizids Atrazin

Mit den Regeln zum Abbau von s-Triazinen, der Hydrolyse und der reduktiven Dealkylierung, die formal mit Wasserstoff durchgeführt wird, kann der Abbau von Atrazin simuliert werden [62]. Im folgenden sind die Konzentrationsverläufe der wichtigsten Verbindungen bis zu einer Halbwertszeit in Abbildung 126 und bis zu einem Umsatz von 99.9% in Abbildung 127 gezeigt. Die Anfangskonzentration von Atrazin betrug dabei 0.1 mol/l, die von Wasser und Wasserstoff je 1 mol/l.

Abbildung 126: Metabolisierung von Atrazin innerhalb einer Halbwertszeit.

Abbildung 127: Konzentrationsverläufe von Atrazin und seinen Metaboliten über den Zeitraum von 480 Tagen, bis 99.9% des Atrazins metabolisiert sind.

Abbildung 128 zeigt neben dem Konzentrationsverlauf eines Metaboliten auch die Werte für die Persistenz, das Integral der Konzentration über die betrachtete Zeit, und die Auf- und Abbauraten erster Ordnung.

Abbildung 128: Werte einer Verbindung beim Abbau von Atrazin bis zu 99.9%. Die Persistenz ist das Integral des gezeigten Konzentrationsverlaufs über die gesamte dargestellte Zeit.


Wenn Sie möchten, können Sie hier selbst ein Beispiel rechnen und die Ergebenisse anzeigen lassen.


6.9.1.5. Michaelis-Menten-Kinetik und Reaktionen nullter Ordnung

Für enzymkatalysierte Reaktionen kann statt der Reaktionen erster, pseudoerster und zweiter Ordnung auch eine Michaelis-Menten-Kinetik für einzelne Reaktionstypen angenommen werden. Dies wird dadurch erreicht, daß für diesen Reaktionstyp in den Regeln ein entsprechendes Attribut gesetzt wird und zusätzlich zur Reaktivität die Michaelis-Konstante an EROS7 übergeben wird (siehe Anhang B.3.1). Diese Kinetik ist eine Vereinfachung der Enzymreaktion mit vorgelagertem Gleichgewicht, wie es in Abbildung 129 gezeigt ist.

Abbildung 129: Teilschritte einer enzymatischen Reaktion: Gleichgewicht zur Bildung des Enzym-Substrat-Komplexes und die enzymkatalysierte Reaktion.

Mit Hilfe der Michaelis-Menten-Kinetik kann diese Reaktion vereinfacht gesehen und von EROS7 erzeugt werden (siehe Abbildung 130).

Abbildung 130: Vereinfachte Enzymreaktion.

Für diese vereinfachte Reaktion gilt folgende Bildungsgeschwindigkeit von P [53]:

An EROS7 werden dabei das Produkt k2·[E]0 als Reaktivität und Km übergeben. Befindet sich die Reaktion ständig im Sättigungsbereich des Enzyms, kann über die Attribute des Reaktionstyps auch bestimmt werden, daß es sich um eine Reaktion nullter Ordnung handelt, wobei die Geschwindigkeitskonstante nullter Ordnung als Reaktivität übergeben wird.

6.9.2. Wahrscheinlichkeitskinetik

Hat man lediglich Reaktionswahrscheinlichkeiten, läßt sich als Ergebnis der Kinetik der Konzentrationsverlauf für die Verbindungen nicht berechnen und damit auch keine Auf- und Abbauraten oder die Persistenz. Mit dieser Kinetik werden nur die Endkonzentrationen der Substanzen ermittelt. In der von den Regeln übergebenen Variablen der Reaktivität wird in diesem Modus die Reaktionswahrscheinlichkeit im Bereich von null bis eins erwartet. Die Umsätze der konkurrierenden Reaktionen werden folgendermaßen berechnet:

Ui ist der Umsatz der Reaktion i, Pi die Wahrscheinlichkeit, z die Symmetriezahl und c0 die Anfangskonzentration des Edukts. Dabei werden nacheinander alle Reaktionen i dieses Edukts betrachtet. k ist eine Laufvariable über alle Reaktionen dieses Edukts. Die Endkonzentration des Edukts ergibt sich als Differenz der Anfangskonzentration und der Summe aller Umsätze.

Auch in EROS7 ist eine Methode für die Behandlung von Umlagerungsreaktionen eingebaut. Sie unterscheidet sich von der in MASSIMO enthaltenen dadurch, daß die Variable reactivity den Prozentsatz des Edukts angibt, der mit dieser Reaktion umgelagert wird (z.B. 0.15 für 15%). Ergeben alle vom Edukt ausgehenden Umlagerungsreaktionen einen Umsatz von mehr als 100%, werden die Umsätze reskaliert, sodaß die Reaktionen 100% umsetzen. Ein Abbruchkriterium, daß Produkte im Umlagerungssystem nur einmal gebildet werden, gibt es nicht. Diese Methode hat die Vorzüge, daß sie immer eindeutig ist und auch näher an der Realität liegt (vergleiche 4.3.3.1). EROS7 wertet wie MASSIMO zur Berechnung der Umsätze alle Umlagerungen aus, bevor die Umsätze der Fragmentierungen bestimmt werden. Diese Berechnung mit den angegebenen Prozentsätzen wird dann durchgeführt, wenn für den Reaktionstyp das Attribut rearrangement angegeben wurde.

Diese Kinetik wird für die Simulation von Elektronenstoßmassenspektren verwendet, kann aber auch angewendet werden, wenn man lediglich Reaktionswahrscheinlichkeiten zur Verfügung hat, die beispielweise aus einer Reaktionsklassifizierung stammen. In diesem Fall empfiehlt es sich, Reaktionen mit einer zu geringen Wahrscheinlichkeit gänzlich zu verwerfen. Zu bedenken ist noch, daß die Implementation der Wahrscheinlichkeitskinetik nur für monomolekulare Reaktionen Werte liefern kann.



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