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VIII. Syntheseplanung für Visnadin

1. Einführung in das Themengebiet

Ammi Visnaga ist eine in Nordafrika beheimatete Pflanze, deren Verwendung als Medikament eine nachweisbar tausendjährige Geschichte hat [34] . Die ersten systematischen Untersuchungen der Inhaltsstoffe gehen auf Mustapha [35] zurück, der 1879 ein gelbliches Pulver erhielt, das er Khellin nannte. Erst ab 1930 gelang Fantl und Salem [36] bzw. Samaan [37] die Reindarstellung einiger der Inhaltsstoffe. Die Gruppe der Visnagane, die zu den Cumarinen zählen, wurde in den 50er Jahren entdeckt. Smith, Pucci und Bywathers [38] isolierten als erste Visnadin in gereinigter Form aus dem fetten Öl der Samen von Ammi Visnaga. Starkovsky et al [39] und Le Men [40] konnten zeigen, daß sich Visnadin aus den Fruchtdolden der Pflanze (ohne Samen) leichter gewinnen läßt, so daß pharmakologische und klinische Untersuchungen in breiterem Maße durchgeführt werden konnten. Hierbei stellte sich eine stark coronardilatierende Wirkung am isolierten Warmblüterherzen heraus, die sechsmal höher ist als die von Khellin. Im Bereich therapeutischer Dosen bewirkt es keine Erhöhung des Systemblutdrucks, so daß es als Coronartherapeuticum zur Behandlung von Angina Pectoris eingesetzt werden kann (Abb. 50 ).

Abb. 50: Packungsbeilage eines natürlichen Visnadin-Präparates (Carduben der Fa. Madaus AG, Köln)
Eine unmittelbare Synthesevorstufe von Visnadin stellt (+)-cis-Khellacton dar (Abb. 55 , Seite 80 ). 1994 veröffentlichen Reisch und Voerste eine enantioselektive Synthese dieser Verbindung [41] .

Im Rahmen der Diplomarbeit sollte nun der Versuch unternommen werden, retrosynthetisch eine Totalsynthese von Visnadin zu planen. Hierbei kam das Syntheseplanungsprogramm WODCA in der Version 3 unter Sun Solaris zum Einsatz. Der Auswahl von Visnadin als Syntheseziel lag folgende Motivation zugrunde:

Abb. 51: Strukturen von Khellin (32), Visnadin (33) und der Stammverbindung Cumarin (34)
Bei Betrachtung der Struktur von Visnadin fällt auf, daß viele Merkmale existieren, die eine gezielte Synthese erschweren. So gibt es zwei cis-ständige Estergruppen an benachbarten chiralen Kohlenstoffatomen (beide in R-Konfiguration). Einer der Ester trägt ein weiteres Stereozentrum (S-Konfiguration) in der verzweigten Alkylkette. Das Michael-System der Cumarineinheit ermöglicht elektrophile und nucleophile Angriffe, während der Aromat durch die Sauerstoffsubstituenten für elektrophile Substitutionen aktiviert ist. Die vielen Sauerstoffunktionen innerhalb des Moleküls können die gezielte Reaktion an einzelnen O-Zentren stören.

2. Ähnlichkeitssuchen und retrosynthetische Analyse

Zu Beginn der Syntheseplanung wurden mit Visnadin Ähnlichkeitssuchen im Fluka- und Janssen-Chemikalienkatalog durchgeführt. Die Transformationssuche "aromatic system including alpha atoms" erbrachte vier Treffer, alle anderen WODCA-Transformationssuchen verliefen ergebnislos.

Abb. 52: Treffer der Transformationssuche "aromatic system including alpha atoms"
Man erkennt, daß Visnadin nicht im Angebot der Chemikalienhersteller Fluka und Janssen ist, da es sonst als Treffer in der Liste von Abb. 52 erscheinen müßte.

Alle gefundenen Verbindungen weisen zwar als Teilstruktur das substituierte Benzolgerüst des Visnadins auf, jedoch dürfte sich keine davon als Synthesevorstufe eignen. Calceinblau und Novobiocin stellen ebenfalls Cumarinderivate dar, doch enthält das Cumaringerüst Substituenten, die erst abgespalten werden müßten, um zu einer geeigneten Ausgangsverbindung für Visnadin zu kommen. Im Falle von Calceinblau stört nur die Methylgruppe an der Doppelbindung, da die tertiäre Aminfunktion durch Überführung in ein quartäres Ammoniumsalz und anschließende Substitution einfach zu entfernen sein müßte. Der Sinn einer Syntheseplanung sollte jedoch zunächst sein, die Zielverbindung aus einfachen Edukten aufzubauen, die preiswert zu erhalten sind und ein abzuschätzendes chemisches Reaktionsvermögen aufweisen.

Aus diesem Grunde findet Calceinblau keine weitere Berücksichtigung und es wird innerhalb von WODCA eine Substruktursuche mit der Cumarineinheit des Visnadins durchgeführt. Die hierbei verwendete Anfragestruktur weist folgende Gestalt auf (!C bedeutet, daß an dieser Position beliebige Atome außer Kohlenstoff sitzen dürfen):

Abb. 53: Anfrage der Substruktursuche im Janssen-Chemikalienkatalog
Bei dieser Suche werden vier Treffer erhalten, die sich nur durch den Substituenten an der Ringposition 7 unterscheiden:

Abb. 54: Treffer der Substruktursuche mit der Anfrage aus Abb. 53
7-Hydroxycumarin (4799 Janssen) ist die Verbindung, die von Reisch und Voerste als Ausgangsmaterial für die enantioselektive cis-Khellactonsynthese ausgewählt wurde [41] . Im folgenden Schema soll dieser Syntheseweg kurz aufgezeigt werden.

Abb. 55: Enantioselektive cis-Dihydroxylierung von Seselin zu cis-Khellacton
Die intramolekulare Cyclisierungsreaktion des Alkinylarylethers, die zu Seselin führt, wird leider im experimentellen Teil von Lit. [ 41 ] nicht weiter beschrieben. Es wäre sicherlich interessant zu erfahren, wieviel Nebenprodukte durch die Ringschlußreaktion gebildet werden, denn die Ringpositionen 6 und 8 im Alkinylarylether weisen gegenüber dem intramolekularen elekrophilen Angriff des Alkinylrestes ähnliche Reaktivitäten auf. Aus diesem Grund wäre ein solcher Reaktionsvorschlag in der computerunterstützten Syntheseplanung auch weniger sinnvoll, denn man kann letztendlich nur im Labor verifizieren, ob sich Seselin in vernünftigen Ausbeuten durch die Cyclisierungsreaktion erhalten läßt und wie groß die Anteile der Nebenprodukte sind. Stattdessen hat man in der computerunterstützten Syntheseplanung eher die Absicht, nach Vorstufen zu suchen, die sich in eindeutiger Weise durch bekannte chemische Reaktionen in das Syntheseziel überführen lassen. Das Hauptaugenmerk liegt hierbei auf der Suche nach geeigneten Ausgangsmaterialien und die Zerlegung der Zielverbindung in kleinere Synthesebausteine.

Zu diesem Zwecke wird im Visnadin nach strategischen Bindungen gesucht. Der Schwerpunkt liegt hierbei zunächst auf Kohlenstoff-Heteroatombindungen. WODCA findet fünf strategische Bindungen und zeigt diese mit der entsprechenden Bewertung in der Zielverbindung an.

Abb. 56: Bewertung der strategischen Bindungen in der Zielverbindung Visnadin (33) durch WODCA
Man sieht, daß die drei Esterbindungen die höchsten Bewertungen erfahren. Ein Bruch der beiden exocyclischen Bindungen führt zu den Carbonsäuren Essigsäure (35) und S(+)-2-Methyl-buttersäure (36), sowie der Synthesevorstufe (+)-cis-(1R, 2R)-Khellacton (37):

Abb. 57: Synthesevorstufen nach Bruch der beiden exocyclischen Esterbindungen im Visnadin
Sowohl Essigsäure (35) als auch S(+)-2-Methyl-buttersäure (36) werden von WODCA über eine Identitätssuche im Fluka-Chemikalienkatalog gefunden (Essigsäure: 06869 Fluka 45726, Preis in DM: 1 l 25,80; S(+)-2-Methyl-buttersäure: 10443 Fluka 66127, Preis in DM: 1 ml 75,10).

An dieser Stelle taucht bereits ein erstes Syntheseproblem auf: Die entscheidende Frage ist, ob es möglich sein wird, das cis-Khellacton (37) zunächst selektiv an der einen Alkoholgruppe mit S(+)-2-Methyl-buttersäure zu verestern und anschließend die zweite Alkoholgruppe mit Essigsäure in den entsprechenden Ester umzuwandeln. Ausschlaggebend könnten hier sterische und auch elektronische Gründe sein, denn die beiden Hydroxylgruppen weisen unterschiedliche räumliche Umgebungen auf.

Um der Frage der räumlichen Verhältnisse nachzugehen, wurde die 3D-Struktur sowohl des cis-Khellactons (37) als auch von Visnadin (33) mit CORINA V 1.6 [42] berechnet. Die folgenden Abbildungen zeigen das Ergebnis:

Abb. 58: Darstellung der CORINA 3D-Struktur von cis-Khellacton aus verschiedenen Perspektiven
Man erkennt die planare Cumarineinheit (Abb. 58 links) und den Tetrahydropyranring in der Halbsesselkonformation (Abb. 58 rechts). Aus diesen Ansichten geht hervor, daß die Hydroxylgruppe an C-2 sterisch besser zugänglich sein sollte als die an C-1. Die sterisch anspruchsvollere Carbonsäure S(+)-2-Methyl-buttersäure sollte daher bevorzugt die Hydroxylgruppe an C-2 angreifen. Ein Grund, der jedoch für eine Veresterung an C-1 spricht, ist, daß die entsprechende Hydroxylgruppe eine intramolekulare Wasserstoffbrücke zum Sauerstoff 3 der planaren Cumarineinheit ausbildet, wodurch eine stärkere Polarisierung der H-O-Bindung eintritt und die Nucleophilie des Hydroxylsauerstoffs erhöht wird. Zudem müssen auch noch elektronische Gründe berücksichtigt werden, denn die Hydroxylgruppe an C-1 gehört zu einem Benzylalkohol, während die Hydroxylgruppe an C-2 an einer aliphatischen Kohlenstoffkette sitzt. Hierdurch werden unterschiedliche induktive und mesomere Effekte erzeugt, die ebenfalls Auswirkungen auf das Reaktionsvermögen beider Hydroxylgruppen haben sollten.

Die vorangegangenen Ausführungen haben gezeigt, daß beide Alkoholgruppen unterschiedliche chemische Eigenschaften aufweisen sollten und es spricht vieles dafür, daß Bedingungen gefunden werden können, die die gewünschte Regioselektivität des Veresterungsschrittes herbeiführen, evt. unter Einsatz voluminöser Alkoholschutzgruppen wie Dihydropyran oder Tertiärbutylsilylchlorid. Ob dies jedoch für eine effektive Synthese des Visnadins ausreichend ist, kann letztendlich nur durch Laborexperimente geklärt werden.

Abb. 59: Darstellung der CORINA 3D-Struktur von Visnadin aus verschiedenen Perspektiven
Die CORINA 3D-Struktur des Visnadins bestätigt die vorab angestellten Überlegungen zur räumlichen Anordnung der beiden Estergruppierungen. Es zeigt sich, daß die S(+)-2-Methyl-buttersäureestereinheit nahezu senkrecht auf der Ringebene des Moleküls steht, während der Essigsäureester nur minimal aus der Ringebene herausragt.

Als dritte strategische Bindung wurde von WODCA die cyclische Esterbindung in der Cumarineinheit des Visnadins bestimmt (siehe Abb. 56 ). Ein Bruch dieser ebenfalls mit 100 bewerteten Bindung im cis-Khellacton (37) führt zur Synthesevorstufe (38):

Abb. 60: Synthesevorstufe (38) nach Hydrolyse der Cumarinesterbindung im cis-Khellacton (37)
Mit Verbindung (38) wurden erneut Ähnlichkeitssuchen im Janssen- und Fluka-Chemikalienkatalog durchgeführt. Die Transformationssuche "aromatic system including alpha atoms" ergab dieselben Verbindungen, wie die, die in Abb. 52 auf Seite 79 enthalten sind. Die Transformationssuche "largest ring system" führte zu 20 Treffern im Fluka-Katalog:

Abb. 61: Treffer der Transformationssuche "largest ring system" mit Synthesevorstufe (38) im Fluka-Katalog
Die gleiche Transformationssuche ergab im Janssen-Katalog 15 Treffer (Abb. 62 , Seite 86 ):

Abb. 62: Treffer der Transformationssuche "largest ring system" mit Synthesevorstufe (38) im Janssen-Katalog
Die Durchsicht der erhaltenen Treffer zeigt, daß keine der gefundenen Verbindungen auf einfache Weise in Synthesevorstufe (38) überführt werden kann. Geeignet sind nur solche Verbindungen, die bereits das richtig substituierte Benzolgerüst von (38) aufweisen oder einen einfachen Aufbau desselben erlauben. Am ehesten trifft dies auf 4-Hydroxycumarin (4798 Janssen bzw. 08342 Fluka) zu, doch wären auch hier viele Reaktionsschritte notwendig, die zudem noch Unwägbarkeiten bezüglich der Regioselektivität enthalten, so daß zunächst versucht werden soll, Synthesevorstufe (38) weiter zu vereinfachen.

Es wird daher erneut nach strategischen Bindungen gesucht. Diesmal liegt der Schwerpunkt auf Kohlenstoff-Kohlenstoff-Bindungsbrüchen, denn das zusammenhängende Kohlenstoffgerüst soll in kleinere C-Einheiten zerlegt werden. WODCA findet zwei strategische Bindungen und bewertet diese folgendermaßen:

Abb. 63: Strategische Bindungen in Synthesevorstufe (38)
Bei Verbindung (38) handelt es sich um eine , -ungesättigte Carbonsäure. Diese werden im allgemeinen aus Säureanhydrid und aromatischen Aldehyden hergestellt (Perkin-Reaktion). Um zu diesen Vorstufen zu kommen, wird die mit 100 bewertete Bindung in diesem Sinne gebrochen. Man erhält Essigsäure und den aromatischen Aldehyd (39):

Abb. 64: Synthesevorstufe (39)
Die Transformationssuchen "aromatic system including alpha atoms" und "largest ring system" liefern mit Synthesevorstufe (39) die gleichen Ergebnisse wie mit Synthesevorstufe (38) (Abb. 61 und Abb. 62 ), da durch die Spaltung der Doppelbindung keine Änderung des Ringsubstitutionsmusters eingetreten ist. Dieses ist jedoch für beide Transformationssuchen ausschlaggebend.

Die Transformationssuche "carbon skeleton and alpha atoms" mit Essigsäure als Anfrageverbindung ergibt 90 Treffer, unter denen sich auch Essigsäureanhydrid (6891 Fluka) befindet, welches für die Perkin-Reaktion benötigt wird.

Eine Suche nach strategischen Kohlenstoff-Heterobindungen innerhalb von (39) führt schließlich zu folgender Bewertung:

Abb. 65: Strategische Kohlenstoff-Heterobindung in Vorstufe (39) mit nachfolgender Bindungsspaltung
WODCA schlägt die Spaltung der Bindung zwischen Pyransauersoff und benachbartem Kohlenstoffatom unter gleichzeitiger Eliminierung eines Protons vor, so daß eine C=C-Doppelbindung wie in (40a) entsteht. Der Pyranring ist also die Folge der intramolekularen nucleophilen Addition einer Hydroxylgruppe an die C=C-Doppelbindung (Abb. 65 : gestrichelter Reaktionspfeil). Diese Bewertung ist jedoch problematisch, da Verbindung (40a) ein Enol darstellt, welches augenblicklich zum entsprechenden Keton (40b) tautomerisiert. Dieses läßt sich jedoch nicht mehr zum Pyran (39) cyclisieren, sondern allenfalls in das cyclische Halbacetal (41) überführen. Besser erscheint es, den Ringschluß über eine intramolekulare Substitutionsreaktion im alkalischen Medium zu erzwingen (Abb. 66 : gestrichelter Reaktionspfeil):

Abb. 66: Alternativer Bindungsbruch innerhalb des Pyranrings
Die mit 100 bewertete strategische Bindung wird also gemäß Abb. 66 gebrochen. Hieraus ergibt sich ein Problem: In Verbindung (40c) stehen zwei äquivalente Hydroxylgruppen für den Ringschluß zu Verfügung: Die eine ist zur Aldehydgruppe ortho-, die andere para-ständig.

Die ortho-ständige Hydroxylgruppe bildet eine intramolekulare Wasserstoffbrücke zum Carbonylsauerstoff des Aldehyds aus, wodurch die Nucleophilie des Sauerstoffs erhöht wird. Da der intramolekulare Ringschluß aber über die para-ständige Hydroxylgruppe erfolgen soll, kann man nur dann zu dem gewünschten Produkt gelangen, wenn die Aldehydgruppe erst nach der Ringschlußreaktion an den Aromaten geknüpft wird und man von einer symmetrischen Vorstufe ausgeht (siehe Abschnitt 3 .: Syntheseplan für Visnadin auf Seite 95 ).

Die Transformationssuche "ring substitution positions" liefert für Verbindung (40c) 24 Treffer im Janssen-Katalog und 12 Treffer im Fluka-Katalog:

Abb. 67: Treffer der Transformationssuche "ring substitution positions"
mit Synthesevorstufe (40c) im Janssen-Katalog

Abb. 68: Treffer der Transformationssuche "ring substitution positions"
mit Synthesevorstufe (40c) im Fluka-Katalog
Alle gefundenen Treffer tragen wie die Anfrageverbindung (40c) als gemeinsames Strukturmerkmal ein 1,2,3,4-tetrasubstituiertes Benzolgerüst. Leider findet sich keine Verbindung, die auch die entsprechenden -Atome von (40c) trägt: An den Ringpositionen 1 und 3 Kohlenstoffsubstituenten und an den Ringpositionen 2 und 4 Sauerstoffsubstituenten. Dadurch ist es nicht möglich, auf einfachem Wege Verbindung (40c) aus einem Treffer in Abb. 67 oder 68 aufzubauen.

Zu Beginn der Diplomarbeit wurden bereits Ähnlichkeitssuchen mit 1,2,3,4-tetrasubstituierten Aromaten im Janssen-Feinchemikalienkatalog durchgeführt. Es konnte gezeigt werden, daß Substruktursuchen aufgrund der Verwendung von Platzhalteratomen und ungesättigten Atomen mit freien Valenzen eine sinnvolle Ergänzung zu Transformationssuchen darstellen. Bei der Suche nach geeigneten Synthesevorstufen für Verbindung (40c) ist es notwendig, nur solche Verbindungen zu erhalten, die das passende Substitutionsmuster mit den entsprechenden -Atomen von (40c) aufweisen. Dieses kann in einer Substruktursuche über die Anfragestruktur explizit vorgegeben werden.

Abb. 69: Anfrage für die Substruktursuche im Janssen-Chemikalienkatalog.
C und O weisen freie Valenzen auf
Der einzige Treffer, der bei der Substruktursuche im Janssen-Chemikalienkatalog erhalten wird, ist das Insektizid Rotenon, welches nicht bei den vorangegangenen Transformationssuchen erscheint. Diese Verbindung war bereits Gegenstand einer WODCA-Syntheseplanungsstudie [43]

.

Abb. 70: Treffer der Substruktursuche im Janssen-Katalog
Trotz des passenden Ringsubstitutionsmusters ist auch Rotenon keine geeignete Synthesevorstufe für Verbindung (40c), denn hierzu müßte das Kohlenstoffgerüst aufgespalten werden. Daher wird versucht, (40c) in weitere Synthesebausteine zu zerlegen.

Wie schon angesprochen, ist es ratsam, die Aldehydgruppe erst nach der Ringschlußreaktion an den Aromatenkern zu knüpfen. Es wird daher entschieden, die entsprechende Bindung in (40c) von WODCA brechen zu lassen, obwohl sie nicht als strategisch eingestuft wird (für diese Problematik sind noch Methoden zu entwickeln). Man erhält hierdurch den trisubstituierten Aromaten (42). Die Reimer-Tiemann-Reaktion ist eine für diesen Syntheseschritt sicherlich geeignete Reaktion (ortho-Formylierung von Phenolen im alkalischen Medium). Eine Alternative könnte auch die Kolbe-Schmitt-Reaktion (ortho-Carboxylierung von Phenolen im alkalischen Medium) mit anschließender Reduktion der Säure zum Aldehyd sein (siehe Abschnitt 3 .: Syntheseplan für Visnadin auf Seite 95 ).

Abb. 71: Abspaltung der Formylgruppe
Ein wichtiges Strukturmerkmal von (42) ist die cis-Stellung der beiden Hydroxylgruppen an benachbarten Positionen der Alkylkette. Cis-Diole lassen sich aus olefinischen Doppelbindungen durch Oxidation mit Kaliumpermanganat, Iod/Silberacetat oder auch mit Osmiumtetroxid/Wasserstoffperoxid erhalten. Verbindung (42) könnte folglich aus einem Styrolderivat hervorgegangen sein:

Abb. 72: Verbindung (43) als Synthesevorstufe für das cis-Diol (42)
Mit dem Styrolderivat (43) wurden erneut Ähnlichkeitssuchen im Janssen- und Fluka-Feinchemikalienkatalog durchgeführt. Die Transformationssuche "aromatic system including alpha atoms" erzielte insgesamt 10 Treffer in beiden Katalogen. Die Substruktursuche mit der Anfragestruktur, die in Abb. 73 rechts unten gezeigt ist, ergab mit Sterigmatocystin (7408 Janssen) einen zusätzlichen Treffer.

Abb. 73: Liste aller Treffer der Transformationssuche "aromatic system including alpha atoms"
mit Verbindung (43) und der Substruktursuche mit der Anfragestruktur im Feld rechts unten
2,6-Dihydroxybenzoesäure (3182 Janssen und 05729 Fluka) wird in beiden Katalogen gefunden und ist für die Synthese von (43) wohl am besten geeignet. Der Aufbau der Doppelbindung erfolgt über eine Aldolkondensation. Zuvor muß jedoch noch die Carboxylfunktion in die entsprechende Aldehydgruppe überführt werden. 2,6-Dihydroxybenzaldehyd wird anschließend mit Aceton zum gewünschten Olefin umgesetzt und an der Carbonylfunktion methyliert (die einzelnen Syntheseschritte werden im Abschnitt 3 .: Syntheseplan für Visnadin auf Seite 95 noch ausführlich behandelt). Die Gefahr der Selbstkondensation des Acetons sollte bei Verwendung einer Benzaldehydkomponente und stöchiometrischer Umsetzung der Edukte nicht bestehen, da das deprotonierte Aceton bevorzugt die reaktivere Benzaldehydgruppe angreift und nicht mit einem weiteren Acetonmolekül reagiert, welches im alkalischen Medium in der Enolatform vorliegt.

Geeignete Synthesevorstufen für Verbindung (43) sind ebenfalls die Treffer 2,6-Dimethoxybenzoesäure (nach Etherspaltung und Reduktion zum Aldehyd), 2,6-Dihydroxytoluol (nach Oxidation der Methylgruppe), 2,6-Dimethoxybenzoesäurenitril (nach Etherspaltung und Hydrolyse der Cyanogruppe) und 2,6-Dimethoxytoluol (nach Etherspaltung und Oxidation der Methylgruppe). Sterigmatocystin weist ein zu komplexes Kohlenstoffgerüst auf, als daß es als Ausgangsverbindung für (43) dienen könnte.

Ein alternativer Syntheseweg verläuft über die Perkin-Reaktion und ergibt eine , -ungesättigte Carbonsäure. Diese wird verestert und über die Grignard-Reaktion in das Styrolderivat (43) überführt (anstatt CH 3 MgBr könnte alternativ auch MeLi verwendet werden, falls das Grignard-Reagens zur 1,4-Addition neigt):

Abb. 74: Alternativer Syntheseweg für das Styrolderivat (43)
Nachdem nun die Rückführung der Zielverbindung auf geeignete, kommerziell erhältliche Synthesevorstufen gelungen ist, kann im folgenden Kapitel ein Laborsyntheseplan für Visnadin vorgeschlagen werden.

3. Syntheseplan für Visnadin

Ausgangsverbindung für die Visnadin-Synthese ist 2,6-Dihydroxybenzoesäure (44, Fluka 05729, Janssen 3182), welche im schwach sauren Medium mit Isobuten an den Alkoholgruppen verethert und an der Carboxylgruppe in den entsprechenden t-Butylester (44a) überführt wird. Über die McFadyen-Stevens Reduktion erhält man dann aus dem Ester selektiv 2,6-Di-t-butoxybenzaldehyd (45):

Abb. 75: Erzeugung von 2,6-Di-t-butoxybenzaldehyd (45)
Die Umsetzung von (45) mit Aceton liefert im alkalischen Medium über eine Aldolkondensation 2,6-Di-t-butoxy-(E)-benzylidenaceton (46):

Abb. 76: Erzeugung von 2,6-Di-t-butoxy-(E)-benzylidenaceton (46)
Die Oxidation der C=C-Doppelbindung von (46) zum cis-Diol erfolgt mit katalytischen Mengen Osmiumtetroxid und Wasserstoffperoxid. Zum Schutz der neu entstandenen Alkoholgruppen werden diese mit Aceton in das Acetonid (47) überführt:

Abb. 77: Erzeugung des Acetonids (47)
Die Alkylierung von (47) mit Methyllithium am Carbonylkohlenstoff führt nach anschließender Hydrolyse zu Verbindung (48):

Abb. 78: Erzeugung von (48)
Im schwach sauren Medium werden die Schutzgruppen abgespalten und es setzt eine intramolekulare Ringschlußreaktion mit einer der beiden Phenolgruppen ein. Hierdurch wird unter Wasserabspaltung von der tertiären Alkoholgruppe das Chromanderivat (49) gebildet:

Abb. 79: Erzeugung des Chromanderivates (49)
Im alkalischen Medium wird über die Reimer-Tiemann-Reaktion der Benzolkern in ortho-Stellung zur Hydroxylgruppe formyliert: Man erhält ein Salicylaldehydderivat (39). Der Angriff des Dichlorcarben erfolgt hierbei selektiv in ortho-Stellung zur Hydroxylgruppe, da nur diese von der Base deprotoniert werden kann und das entstehende Phenolat den Aromatenkern an entsprechender Position aktiviert [44] .

Abb. 80: Erzeugung der Verbindung (39)
Die Umsetzung von (39) mit Essigsäureanhydrid liefert im alkalischen Medium (Natriumacetat) eine , -ungesättigte Carbonsäure (50, Perkin-Reaktion), die an der Doppelbindung (Z)-Konfiguration aufweist [45] .

Um Veresterungsreaktionen mit dem Säureanhydrid auszuschließen, müssen vorher jedoch alle Alkoholgruppen als Tetrahydropyranylether (39a) geschützt werden. Im schwach sauren Medium können die Alkoholschutzgruppen dann wieder abgespalten werden, und es bildet sich das cis-Khellacton (37), ohne daß der Pyranring geöffnet wird (Reaktionsschema auf der folgenden Seite).

Abb. 81: Erzeugung des cis-Khellactons (37)
Um vom cis-Khellacton (37) zum Visnadin (33) zu kommen, müssen die beiden Alkoholgruppen mit Essigsäure bzw. S(+)-2-Methyl-buttersäure regioselektiv verestert werden. Die Betrachtung der CORINA 3D-Struktur von (37) und (33) hatte ergeben (siehe Seite 82 und Seite 83 ), daß die beiden Hydroxylgruppen bzw. Estergruppen an C-1 und C-2 unterschiedliche räumliche Umgebungen aufweisen, so daß bei Verwendung sperriger Alkoholschutzgruppen über die sterische Hinderung eine selektive Veresterung möglich sein sollte.

Läßt sich jedoch schon über die Größe der eingesetzten Carbonsäuren die gewünschte Regioselektivität des Veresterungsschrittes erreichen, so werden besser nicht die freien Säuren, sondern ihre entsprechenden reaktionsfähigeren Acylhalogenide verwendet:

Abb. 82: Erzeugung der Zielverbindung Visnadin (33)
Die entstehende Bromwasserstoffsäure muß natürlich abgefangen werden, damit die Esterbindungen keine Hydrolyse erleiden. Durch die Veresterungsreaktionen in Abb. 82 erhält man so die Zielverbindung Visnadin (33) in einer insgesamt über 13 Stufen verlaufenden Synthese.

4. Stereochemische Betrachtungen

Im vorangegangenen Kapitel konnte ein Syntheseplan für Visnadin erstellt werden. Zu beachten ist, daß der unmittelbare Vorläufer des Visnadins, cis-Khellacton (37), in Form eines Racemats der (9R, 10R)- bzw. (9S, 10S)-Form erhalten wird, da die Oxidation der Doppelbindung, die zum cis-Diol verläuft, auf beiden Molekülseiten von (46) mit der gleichen Wahrscheinlichkeit abläuft (Abb. 77 , Seite 96 ). Die Veresterung dieses Racemats mit der chiralen S(+)-2-Methyl-buttersäure ergibt zwei Diastereomere in der (RRS)- und (SSS)-Form, welche unterschiedliche physikalische Eigenschaften aufweisen, so daß eine Trennung in die einzelnen Diastereomere des Visnadins möglich ist (fraktionierte Kristallisation).

Es gibt in der Chemie mittlerweile verschiedene Möglichkeiten, eine enantioselektive Synthese bestimmter Substanzen aus achiralen Vorstufen durchzuführen. Häufig kommen hierbei chirale Hilfsreagentien wie bei Reisch und Voerste zum Einsatz, die für ihre enantioselektive cis-Dihydroxylierung Dihydrochinidin-9-O-(4'-methyl-2'-chinolyl)ether verwendeten. Die Sharpless-Epoxidierung ist ein weiteres Beispiel für eine solche Synthesemöglichkeit: Titan(IV)-isopropylat und (+)- bzw. (-)-Diethyltartrat induzieren eine asymmetrische Oxiranbildung [46] . Voraussetzung für die Durchführung dieser Reaktion ist die Anwesenheit einer Allylalkoholgruppierung, an der die Epoxidierung stattfindet. Diese Funktionalität liegt in (43) bereits vor. Alternativ ließe sie sich auch durch Umsetzung von (46) mit Methyl-Lithium aufbauen. Es ergibt sich jedoch das Problem, daß das Endprodukt dieser Reaktions-sequenz ein Epoxid darstellt, welches bei der Ringöffnung nur in ein trans-Diol überführt werden kann. Im Visnadin weisen die beiden exocyclischen Estergruppierungen jedoch cis-Konfiguration auf, so daß für die enantioselektive Synthese dieser Verbindung die Sharpless-Epoxidierung nicht eingesetzt werden kann.



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