Schrittweise Retrosynthese -
Suche nach strategischen Bindungen und
Erzeugung von Vorstufen x

Schrittweise Retrosynthese - <br>Suche nach strategischen Bindungen und <br>Erzeugung von Vorstufen x

In diesem Kapitel werden die Mechanismen vorgestellt, mit denen im WODCA System schrittweise Vorstufen abgeleitet werden können. Mehrere Algorithmen sind verwirklicht worden, die verschiedene Strategien zur Lösung dieses Problems anbieten.

4.1 Das Problem

Es kann verschiedenste Gründe dafür geben, daß die im Kapitel 3 beschriebenen Methoden zur Suche geeigneter Ausgangsmaterialien nicht zu befriedigenden Ergebnissen führen. Die häufigsten sind:

o

o o Die Aufgabe besteht dann darin, einfachere, weniger komplexe Verbindungen aus der Zielverbindung abzuleiten, für die dann erneut nach Ausgangsmaterialien gesucht werden kann. Aus solchen abgeleiteten Verbindungen (den Vorstufen) soll die Zielverbindung durch eine Reaktion darstellbar sein.

In diesen Fällen kann auf den klassischen Ansatz von Corey [1] zurückgegriffen werden, d. h. einzelne Bindungen im Syntheseziel müssen ausgewählt, gebrochen und die entstehenden Fragmente durch geeignete Abgangsgruppen oder Bindungsumordnungen in reale Reagenzien überführt werden. Es wurde bereits im Abschnitt 2.2.2 erwähnt, daß derartige Bindungen in einer Zielverbindung als strategisch bezeichnet werden. Ein Lösungsansatz läßt sich demnach in Teilaufgaben untergliedern:

1. Auswahl der strategischen Bindungen:
Wo soll die Zielverbindung fragmentiert werden?

2. Ableitung der Reagenzien, die nach Bruch der strategischen Bindungen entstehen:
Wie sollen die offenen Valenzen der fragmentarischen Moleküle gesättigt werden? Solcherart Molekülfragmente werden als Synthone verstanden.

3. Relative Wertung:
Welche Bindung aus dem Satz aller gefundenen strategischen Bindungen ist besonders sinnvoll?

Wissens- oder transformbasierte Programme zur Syntheseplanung wie LHASA lösen diese Teilaufgaben in einem Schritt: Ein Transform, das auf eine Zielverbindung angewendet wird, definiert über eine Substruktur den Ort des retrosynthetischen Bindungsbruchs. Die resultierenden Reagenzien sind ebenfalls durch Substrukturen auf der Eduktseite im Transform definiert. Das Potential solcher Systeme wächst daher mit leistungsfähigeren Transforms.

Im WODCA System bestehen zwei prinzipielle Möglichkeiten zur Suche nach strategischen Bindungen: die manuelle Definition und die Benutzung von Funktionen. Auf die manuelle Erzeugung von Vorstufen wurde bereits im Abschnitt 2.2.2. hingewiesen. In diesem Kapitel werden ausschließlich neu entwickelte Funktionen abgehandelt. Zunächst sollen jedoch die prinzipiellen Möglichkeiten derartiger Funktionen diskutiert werden.

4.2 Möglichkeiten zur retrosynthetischen Analyse in WODCA

WODCA geht bei der schrittweisen Retrosynthese wie folgt vor:

o

o o Die Hauptarbeit leisten demnach die automatischen Funktionen zum Analysezeitpunkt. Dem Benutzer obliegt es anschließend, den Vorschlägen des Programms zu folgen.

Funktionen zur retrosynthetischen Analyse werden im WODCA System Version 3 wie die Transformationsregeln des Kapitels 3 als tcl-Skript formuliert. Dabei steht der gleiche Sprachumfang wie bei den Ähnlichkeitskriterien zur Verfügung (siehe Abschnitt 3.2.3). Es sei hier nur daran erinnert, daß dadurch eine umfassende Zahl sowohl topologischer Informationen (z. B. Atom ist Ringatom, Bindung ist aromatisch, Ring ist sechsgliedrig etc.) als auch physikochemischer Daten (z. B. Atompartialladungen) verfügbar sind. Darüber hinaus werden einige nur für die schrittweise Retrosynthese relevante zusätzliche Bindungsattribute bereitgestellt (siehe Tab. 4 - 1). Diese können gesetzt oder gelesen werden. Sie sind erforderlich und ausreichend, um flexibel strategische Bindungen und die resultierenden Reagenzien codieren zu können. Auf Einschränkungen wird weiter unten noch eingegangen.

Eine Retrosynthesefunktion des WODCA Systems geht dann in etwa so vor2: In einer Schleife über alle Bindungen werden zunächst diejenigen Bindungen ausgeschlossen, die für die gerade anzuwendende Strategie irrelevant sind (z. B. werden etwa alle aromatischen Bindungen ignoriert). Für Bindungen, die nach formalen Kriterien nicht herausfallen, können dann weitere Prüfungen stattfinden. Beispielsweise kann die Differenz in den Atompartialladungen der Bindungsatome geprüft werden, etwa weil eine solche Differenz in einem bestimmten Wertebereich eine Position signalisiert, die von strategischem Interesse sein kann. Ist auf diese Weise eine Bindung ausgewählt worden, werden Schnittmodus3, eine Initialbewertung und erste Abgangsgruppen definiert. Unter Umständen wird auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe von strategischen Bindungen spezifiziert. Oft wird es so sein, daß zur Bestimmung der passenden Abgangsgruppen eine eigene Unterfunktion aufgerufen wird. Dabei ist es möglich, daß eine Initialbewertung der strategischen Bindung nachträglich korrigiert wird (Bonusse oder Malusse für die betreffende Bindung) oder wieder ganz aus dem Satz der strategischen Bindungen entfernt wird. Andere Unterfunktionen können nach Ermittlung des Satzes der strategischen Bindungen diese nochmals an Hand globaler molekularer Kriterien überprüfen (sind mehrere strategische Bindungen topologisch gleich, liegt diese im Zentrum des Molekülskeletts oder in äußeren Bereichen usw.) und Veränderungen vornehmen.

Tab. 4 - 1 Zusätzliche Informationen, die von tcl zur Definition retrosynthetischer Schritte benutzt werden.

Information

tcl-Schlüsselwort

Zugriffs-art1

Eine Liste von Ordnungszahlen. Diese codiert die Art der Atome, die beim Bruch dieser strategischen Bindung an die freien Valenzen addiert werden. Einige Spezialcodes sind implementiert:

0 - Addiere keinerlei Atom.

-1 - Entferne ein H-Atom am benachbarten C-Atom (wenn möglich).

Bindungen, die nicht als strategisch markiert sind, werden durch eine leere Liste gekennzeichnet.

B_SBADDATOMS

L/S

Schnittmodus für eine strategische Bindung. Folgende Modi sind implementiert:

1 - Bindungsgrad wird um Eins gesenkt.

2 - Bindungsgrad wird auf Eins gesenkt.

3 - Bindung wird vollständig gebrochen.

4 - Bindungsgrad wird um Eins erhöht.

5 - Bindungsgrad wird um Zwei erhöht.

B_SBCUTMODE

L/S

Gruppenkennzeichnung. Durch gleiche Kennzeichnung werden mehrere strategische Bindungen zusammengefaßt. Eine Gruppe von strategischen Bindungen wird immer zusammen gebrochen.

B_SBGROUP

L/S

Bewertung einer strategischen Bindung

B_SBRATING

L/S

1
L - Lesezugriff, S - Schreibzugriff

Es wäre denkbar, daß die Retrosynthesefunktionen des WODCA Systems ähnlich wie transformbasierte Programme vorgeht, d. h. eine Transform-Substruktur im Syntheseziel sucht. Für die Substruktursuche auf dem Molekülgraphen der Zielverbindung steht ein für tcl implementiertes match-Kommando zur Verfügung. Ausgehend von den gefundenen Überlagerungen könnten dann, wie voranstehend beschrieben, Bewertungen vorgenommen werden. Dieser Weg ist derzeit jedoch in keiner Funktion realisiert.





1
Das gilt nur, wenn WODCA im grafischen Modus betrieben wird. Es ist jedoch auch möglich WODCA ohne grafische Benutzerschnittstelle zu betreiben.
2
Dieses Szenario ist kein festes Dogma. Dem Programmierer einer solchen Funktion ist alles erlaubt, was ihm algorithmisch geeignet erscheint und den Syntax-Regeln der Sprache tcl entspricht.
3
Der Schnittmodus legt fest, wie sich der Bindungsgrad verändern soll. Siehe auch Tab. 4 - 1.