4.3.4 Eine formale Strategie für komplexe Ringsysteme

Dieser letzte Abschnitt soll eine für WODCA implementierte Methode beschreiben, welche die Auswahl der strategischen Bindungen ausschließlich nach formalen topologischen Kriterien betreibt. Diese Methode stützt sich auf die von Corey [100], [12] aufgestellten Regeln zur Suche nach strategischen Bindungen in komplexen Ringsystemen. Diese wurden aufgestellt, um den zahlreichen, in der Transform-Bibliothek von LHASA codierten Retro-Reaktionen eine lenkende Auswahlstrategie zur Verfügung zu stellen. Gleichwohl können diese Regeln auch ohne Computer-Unterstützung zur Planung von Synthesen angewendet werden.

Einige Begriffe, die zur Formulierung der Regeln gebraucht werden, sollen zunächst erläutert werden:

o

o o o o o

Struktur 79   Struktur 80   Struktur 81   

Abb. 4 - 29

Brückenkopfatome in verschiedenen Verbindungen. Die Atome 1 und 2 im Decalin (79) sind Brückenkopfatome im WODCA System, nach der Corey-Definition jedoch nicht. Die markierte Bindung ist eine Kern-Bindung. Im Norbornan (80) sind 3 und 4 nach beiden Definitionen Brückenköpfe. Das Atom 5 in (81) ist kein Brückenkopfatom.


Die Regeln lauten wie folgt:

1. Strategische Bindungen müssen in einem primären Ring mit vier bis sieben Ringgliedern liegen.

2a. Die strategische Bindung muß in direkter Verbindung (exo) zu einem weiteren Ring stehen.

2b. Die strategische Bindung darf jedoch nicht exo zu einem 3-gliedrigen Ring sein.

3. Die strategischen Bindungen müssen im maximal verbrückten Ring liegen.

4. Kern-Bindungen sind niemals strategisch.

5. Aromatische Bindungen sind ebenfalls nicht strategisch.

6a. Liegt die strategische Bindung auf einem Verbindungspfad zwischen zwei Brückenkopfatomen und enthält dieser Pfad ein oder mehrere chirale Zentren, wird die betreffende Bindung nicht als strategisch betrachtet (siehe markierte Bindungen im Beispiel (82) in Abb. 4 - 30).

6b. Existiert jedoch nur ein chirales Zentrum auf diesem Pfad und ist dieses Zentrum Bindungsatom der strategischen Bindung, wird diese Bindung nicht ausgeschlossen (siehe markierte Bindung im Beispiel (83) in Abb. 4 - 30).

Struktur 82   Struktur 83   

Abb. 4 - 30

Beispielfälle zur Erläuterung der Regeln 6a und 6b. Im linken Beispiel werden die markierten Bindungen als strategische Bindungen nach 6a ausgeschlossen. Im rechten Fall dagegen, erlaubt 6b die hervorgehobene Bindung als strategische Bindung.


Darüber hinaus werden auch alle CX-Bindungen in die Liste der strategischen Bindungen aufgenommen, für welche die Regeln 2b, 4, 5 sowie 6a und 6b erfüllen.

Diese Regeln sind für das LHASA-Programm im Quellcode formuliert, d. h. sie sind gewissermaßen fest verdrahtet" im Gegensatz etwa zu den Transforms, die mittels CHMTRN codiert sind. Für WODCA werden auch diese Regeln, wie die anderen Methoden zur Suche nach strategischen Bindungen (siehe vorangehende Abschnitte) oder die Transformationssuchen (siehe Kapitel 3) in tcl codiert. Eventuell erforderliche Veränderungen werden damit jedem Anwender möglich.

Um die Formulierung der obigen Regeln in tcl zu bewerkstelligen, wurde das ring Kommando als zusätzliche Erweiterung implementiert (siehe Abschnitt 3.2.3). Die Größenbegrenzung im Begriff der synthetisch signifikanten Ringe basiert auf der Erfahrung, daß Großringe (ab acht Atome) schwieriger zu synthetisieren sind. Auch der Begriff der Kern-Bindung wurde aus diesem Grund eingeführt. Diese Begrenzung ist jedoch nicht unumstritten. Deslongchamps [121] fordert beispielsweise gerade die Entwicklung von Synthesemethoden für Ringe mittlerer und großer Gliederzahl. Für diese Arbeit wurde Coreys Begrenzung beibehalten. Durch die externe Codierung der Regeln ist es jedoch problemlos und einfach für jeden Anwender möglich, derartige Beschränkungen zu verändern.

Die WODCA-Implementation weicht in einzelnen Punkten von den Regeln Coreys ab.

o

o In Abbildung 4 - 31 wurde die WODCA-Implementation der Corey-Regeln auf Beispielverbindungen der Originalpublikation [100] angewendet. In diesen Fällen sind die Ergebnisse identisch. Einzige Ausnahme ist das Bicyclo[3.2.1]octan-Derivat (84), für das WODCA eine zusätzliche strategische Bindung lokalisiert, die bei Corey aufgrund der Regel 6a eliminiert wird.

Abb. 4 - 31

Anwendung der WODCA-Implementation der Regeln zur Auswahl strategischer Bindungen in komplexen Ringsystemen. Die fett markierten Bindungen sind die in der Originalpublikation als strategisch erkannten Bindungen. Der Querstrich markiert die von WODCA ermittelten strategischen Bindungen.


Die beschriebenen Regeln selektieren nur den Ort eines retrosynthetischen Bindungsbruchs. Sie liefern keinerlei Information über die zugrundeliegende Reaktion oder notwendige Abgangsgruppen. In LHASA werden mit den vorgegebenen strategischen Bindungen nun solche Retro-Reaktionen in der Transform-Bibliothek gesucht, welche an der geforderten Position anwendbar sind. WODCA kennt keine Transform-Bibliothek. Stattdessen werden nun Funktionen verwendet, welche die Generierung von Vorstufen in den voranstehenden Abschnitten bewerkstelligt haben: Handelt es sich um CX-Bindungen, werden die Methoden aus Abschnitt 4.3.2 verwendet, bei CC-Bindungen diejenigen aus Abschnitt 4.3.3. Es ist dabei durchaus möglich, daß für eine gegebene strategische Bindung keine Vorstufen ableitbar sind (die physikochemischen Parameter signalisieren keine ausreichende Aktivierung bzw. die atomare Umgebung der strategischen Bindung entspricht keiner erwarteten Situation). Die strategische Bindung wird in solchen Fällen nicht verworfen, jedoch mit einer sehr niedrigen Bewertung (10) versehen. Der Anwender kann dann selbst geeignete Vorstufen ableiten oder aber diese strategische Bindung von weiteren Untersuchungen ausschließen.

Auch hier soll die Anwendung dieser Algorithmen an einem Beispiel demonstriert werden. Dazu dient das Bicyclo[2.2.2]octan-Derivat (85) aus Abbildung 4 - 32. Man beachte die chiralen Zentren. Die Verbindung hat zwei primäre Ringe mit sechs Gliedern sowie einen sekundären Ring mit ebenfalls sechs Atomen. In jedem der Ringe gibt es zwei Brückenkopfatome (Atome 1 und 4 in Abb. 4 - 32).

Struktur 85   Bicyclo[2.2.2]octan   

Abb. 4 - 32

Anwendungsbeispiel Bicyclo[2.2.2]octan-Derivat (85). Links eine perspektivische Darstellung der Zielverbindung, in der Mitte die verwendete Numerierung für das Ringsystem. Rechts eine alternative Darstellung der Zielverbindung mit entsprechenden Keilbindungen. Um die Stereochemie korrekt zu spezifizieren, muß die Verbindung mit gekeilten Bindungen eingegeben werden. Ein Computerprogramm kann allein aus der Konnektivitätsinformation, wie sie in der linken Darstellung enthalten ist, keine eindeutige Zuordnung der chiralen Zentren vornehmen.


Sämtliche zu diesen Brückenkopfatomen exo stehende Bindungen werden von WODCA als strategisch angesehen. Bei Anwendung der Regeln 6a und 6b wären es nur zwei. Diese Bindungen sind in Abbildung 4 - 33 fett markiert. Für vier der strategischen Bindungen (5-4. 1-2, 3-4 und 1-7) vergibt WODCA solide Bewertungen3 (100, 94, 91 und 88). Für zwei Bindungen fehlen Vorstellungen zu erforderlichen Abgangsgruppen (4-6 und 1-6, Bewertung 10). Folgt man den Vorschlägen von WODCA und bricht die strategischen Bindungen 1-2 und 3-4, resultieren die Vorstufen Carvon (86) und Crotonsäuremethylester (87).

Abb. 4 - 33

Links alle strategischen Bindungen in Verbindung (85). Die fett gezeichneten Bindungen resultieren nach dem Corey-Algorithmus. Die markierten Bindungen erkennt WODCA als strategisch. Die Zahlen neben den Markierungen sind die zugeordneten Bewertungen. Rechts die Vorstufen, die beim Bruch zweier strategischer Bindungen resultieren.


Diese Vorstufen entsprechen einer doppelten Michael-Addition. Bricht man zunächst nur eine dieser beiden Bindungen (3-8) und wendet auf die resultierende Vorstufe die Retrosynthesefunktion des Abschnitts 4.3.3 an, wird das noch deutlicher: WODCA charakterisiert wiederum die Bindung (6-7) als strategisch, nun mit etwas anderen Bewertungen (siehe Abb. 4 - 34). Daneben werden weitere strategische Bindungen gefunden. Der Bruch der am höchsten bewerteten Bindung führt dann zu den bekannten Vorstufen (86) und (87).

Abb. 4 - 34

Vorstufengenerierung durch Bruch nur einer strategischen Bindung und erneute Anwendung einer Analysefunktion. Die letztendlich resultierenden Vorstufen sind gleich. Dafür wird der doppelte Michael-Angriff so deutlicher.


Dieser von WODCA vorgeschlagene Syntheseweg entspricht einer publizierten Route [122]. Die Autoren erzielten bei ihrer Umsetzung von (-)-Carvon mit Crotonsäuremethylester eine Ausbeute von über 70 %. Die absolute Konfiguration der Zielverbindung (85) konnte mittels 2D-1H-NMR-Spektroskopie bestätigt werden.

Die Vorstufen (86) und (87) werden direkt im Fluka-Katalog gefunden. Interessant ist die Fragestellung, ob es zum (-)-Carvon (86) alternative Ausgangsmaterialien gäbe, wenn dieses selbst nicht kommerziell verfügbar wäre. Dazu wird mit dem Ähnlichkeitskriterium C-Skelett einschließlich -Atome und Reduktion" im Fluka-Katalog gesucht. Zehn Treffer erhält man auf diese Weise. Diese werden mittels der in Abschnitt 2.2.3 vorgestellten Funktion auf ihre relative Übereinstimmung mit der Anfrageverbindung (-)-Carvon (86) bewertet und abfallend geordnet. Diese Reihenfolge gibt Abbildung 4 - 35 wieder. Das klar am besten bewertete Ausgangsmaterial ist natürlich (-)-Carvon selbst. Aber auch das (-)-Carvyl-acetat (88) stimmt mit seiner Konfiguration und Funktionalitätsverteilung exzellent mit der Anfrage überein und erhält daher eine nur wenig niedrigere Bewertung. Wäre (-)-Carvon nicht im Katalog enthalten, stellte diese Verbindung eine bestens geeignete Alternative dar. Alle anderen Ausgangsmaterialien fallen dagegen deutlich ab.

Abb. 4 - 35

Nach ihrer Bewertung geordnete Ausgangsmaterialien für (-)-Carvon (86, unten rechts). Die Bewertung ist als Tortendiagramm (rechts oben) wie auch numerisch (links oben) angegeben. Die Liste der zehn Verbindungen wurde mit der Ähnlichkeitssuche C-Skelett einschließlich -Atome und Reduktion" ermittelt.


In einem zweiten Beispiel soll nun die Retrosynthesefunktion dieses Abschnitts auf das TIBO-Beispiel (46) aus Abschnitt 4.3.2 angewendet werden. Das Resultat zeigt Abbildung 4 - 36. Zu den strategischen Bindungen, die allein durch die CX-Strategien gefunden werden, kommen zwei weitere strategische Bindungen hinzu. Eine davon ist eine CC-Bindung, die durch die CX-Strategien nicht gefunden werden kann. Die Bindung des N1-Atoms zum Phenylring wurde nur hier ermittelt, weil diese Bindung exo zu einem Ring steht. Die CX-Strategie allein vermeidet jedoch den Bruch von zu Aromaten -ständigen Bindungen. Für die Syntheseplanung kann man daraus die Schlußfolgerung ziehen, daß Bindungen, die von mehreren Methoden als strategisch erkannt werden, zu besonders aussichtsreichen Reaktionswegen führen.

Abb. 4 - 36

Strategische Bindungen in der Zielverbindung TIBO (46). Links die mit den Algorithmen des Abschnitts 4.3.2 ermittelten Vorschläge. Rechts die mittels der formalen Strategie dieses Abschnitts gefundenen Empfehlungen.






1
In [12] werden diese sekundären Ringe auch als periphere Ringe bezeichnet. Die Einschränkung auf Ringe bis zu sieben Gliedern macht WODCA, weil für den Satz an synthetisch signifikanten Ringen die größeren Ringe ohnehin ausgeschlossen werden.
2
Das können auch mehrere Ringe sein, welche die gleiche Anzahl Brückenkopfatome aufweisen.
3
Das sind nach Gleichung (4-1) ermittelte und innerhalb des Satzes der strategischen CC-Bindungen skalierte Werte analog dem Vorgehen in Abschnitt 4.3.3.