[Prev] [Next] [Home DissOnline]


5. RICOS, eine MO-orientierte Datenstruktur für Moleküle

RICOS (Representation of Inorganic, Coordinative and Organic Structures) [51][52] ist eine Molekülorbital-orientierte chemische Datenstruktur für Moleküle und wurde von Frau S. Bauerschmidt in unserem Arbeitskreis entwickelt. Sie wurde für EROS7, das neue Reaktionsvorhersagesystem, verwendet, um die Beschränkungen der Darstellung als Bindungslisten (siehe 4.5) zu überwinden. Eine MO-orientierte Datenstruktur ist sie deshalb, weil sie konjugierte -Systeme als solche kodiert und nicht, wie bei Bindungslisten, als alternierende Einfach- und Doppelbindungen.

5.1. Vorteile gegenüber einer Bindungsliste

5.1.1. Kodierung von -Systemen

Wie schon erwähnt, ist RICOS eine MO-orientierte, chemische Datenstruktur, die die -Systeme als solche kodiert. Dies soll nun am Beispiel der an einem freien Elektronenpaar des Carbonylsauerstoffatoms ionisierten Acrylsäure gezeigt werden. Struktur A in Abbildung 67 zeigt die Lewis-Struktur, also die Darstellung der Bindungsliste. Der besseren Übersicht halber wurden die an Kohlenstoffatome gebundenen Wassertoffatome in den Strukturen weggelassen. Betrachtet man nun die Atomorbitale in der richtigen Hybridisierung und Ausrichtung, erhält man Struktur B. Die fünf Atomorbitale, die in der Bindungsliste als die beiden Doppelbindungen und ein freies Elektronenpaar am unteren Sauerstoffatom dargestellt sind, bilden zusammen ein -System mit insgesamt sechs Elektronen. Dies ist neben den verbleibenden zwei freien Elektronenpaaren und dem Radikalzentrum in Struktur C, der Darstellung nach RICOS, zu sehen. Desweiteren hat die ionisierte Acrylsäure in der RICOS-Darstellung je ein -Elektronensystem für jede -Bindung zwischen den Kohlenstoffatomen sowie zu den Sauerstoff- und Wasserstoffatomen, die je zwei Elektronen besitzen.

Abbildung 67: Ableitung der Kodierung einer der ionisierten Acrylsäuren. Die an Kohlenstoffatome gebundenen Wasserstoffatome sind der Übersichtlichkeit wegen weggelassen worden.

Sind zwei angrenzende -Systeme nicht miteinander konjugiert, deutet das auf eine Verdrehung an der Stelle in der Verbindung an, an der die beiden -Systeme aneinanderstoßen, also nur noch durch eine -Bindung voneinander getrennt sind. Um alle fünf Molekülorbitale für das -System zu erhalten, kann man diese beispielsweise durch eine Hückel-Rechnung [53] bestimmen. Die Ergebnisse sollten dann als Eigenschaft des Elektronensystems gespeichert werden.

Durch die Aufteilung in einzelne Elektronensysteme mit ihren Besetzungszahlen können auch Singulett- und Triplettcarben unterschieden werden (siehe Abbildung 68).

Abbildung 68: Singulett- und Triplettcarben.

Da Strukturteile, über die ein konjugiertes -System verläuft, planar sind, hat man mit der neuen Struktur auch Teile der Information über die dreidimensionale Struktur. So lassen sich beispielsweise die beiden Formen von Tolan unterscheiden, die sich dadurch auszeichnen, daß die beiden Phenylringe in einer Ebene bzw. senkrecht zueinander sind. Bei der Darstellung nach RICOS bilden dann die beiden aromatischen Systeme ein gemeinsames bzw. zwei verschiedene -Systeme.

Abbildung 69: Zwei Geometrien von Tolan, die von einer Bindungsliste nicht unterschieden werden können.

5.1.2. -Ionisation

Durch die Kodierung von -Bindungen als Elektronensysteme mit zwei Zentren und zwei Elektronen können auch -ionisierte Verbindungen dargestellt werden, wie sie in der Massenspektroskopie auftreten und bei Alkanen die einzig mögliche Ionisationsart darstellen. Zur Ionisation einer -Bindung wird lediglich eines der beiden Elektronen aus dem Elektronensystem entfernt. Abbildung 70 zeigt das an der C-C--Bindung ionisierte Ethan.

Abbildung 70: Ionisiertes Ethan.

5.1.3. Mehrzentrenbindungen

Aber auch Substanzen mit Mehrzentren--Bindungen, wie Borane (siehe Abbildung 71), und auch manche Übergangszustände, wie der einer SN2-Reaktion, können mit RICOS kodiert werden.

Abbildung 71: B5H11 (Struktur [54]).

5.1.4. Komplexbindungen

Neben den Mehrzentren--Bindungen kennt RICOS auch Komplexbindungen, die aus einem besetzten -System (freies Elektronenpaar oder größeres -System) und entsprechend vielen leeren Orbitalen des Metallatoms gebildet werden. So können auch die Verbindungen der gesamten metallorganischen Chemie mit RICOS dargestellt werden. In Abbildung 72 sind der High- und Lowspin-Komplex von 1,1'-Dimethylmanganocen in der Kodierung von RICOS dargestellt.

Abbildung 72: Highspin- (a) und Lowspin-Komplex (b) von 1,1`-Dimethylmanganocen. Im unteren Teil der Abbildung ist jeweils die Elektronenkonfiguration des Mangans gegeben. (aus [52])

5.1.5. Trennung von Bindungen und Nachbarschaften

Ein weiterer wichtiger Schritt wurde in Bezug auf die Weiterentwicklung durch die Trennung der Bindungen bzw. Elektronensysteme und der Nachbarschaftsbeziehungen von Atomen vorgenommen. So kann ein System, das Substrukturen sucht, wie ein Reaktionsgenerator unabhängig davon vorgehen, welche verschiedenen Bindungstypen mit der Datenstruktur kodiert werden können. Wird in Zukunft der Datenstruktur ein weiterer Bindungstyp hinzugefügt, brauchen an der Substruktursuche keine Veränderungen vorgenommen werden, da sie die Nachbarschaftsbeziehungen nutzt.

5.1.6. Gruppen und Aggregate

Desweiteren kennt RICOS Gruppen von Atomen und/oder Elektronensystemen. Diese können die Atome einer funktionellen Gruppe zusammenfassen, aber auch die Ionen eines Salzes zusammenhalten. So entsteht aus zwei Molekülen, dem Kation und dem Anion, ein Aggregat (siehe Abbildung 73). Auf die gleiche Weise können mit Gruppen auch intra- und intermolekulare Wasserstoffbrücken kodiert werden. In den meisten Fällen wird in der organischen Chemie allerdings ein Aggregat aus nur einem Molekül bestehen. Ein Reaktionsensemble besteht schließlich aus ein oder mehreren Aggregaten, den Edukten.

Abbildung 73: Moleküle, Gruppen, Aggregate und das Ensemble.

5.1.7. Genealogische Variablen

Für die Berechnung der physikochemischen Eigenschaften der Moleküle, Atome usw. sind zur Datenstruktur RICOS entsprechende Module zu ihrer Bestimmung dazugebunden. RICOS kennt verschiedene Typen von Eigenschaften. Einen dieser Typen besitzen Eigenschaften, die aus der Darstellung der Moleküle als Bindungslisten abgeleitet werden, die physikochemischen Eigenschaften, die schon in Kapitel 4.2.4 vorgestellt wurden. Im Bedarfsfalle wird die RICOS-Struktur dazu automatisch in die an Informationen ärmere Bindungsliste umgewandelt, die Eigenschaften berechnet und über die Datenstruktur RICOS weitergegeben. Daneben gibt es aber auch schon Eigenschaften, die aus der Struktur nach RICOS bestimmt werden. Eine wichtige Ergänzung der Eigenschaften von RICOS sind aber die Eigenschaften, die nicht aus der Struktur abgeleitet werden können und somit eine zusätzliche Information über die Moleküle darstellen. Diese Eigenschaften sind Variablen, in denen weitere Angaben zur Struktur gespeichert werden. Sie werden während der Vorbehandlung der Ausgangsmaterialien gesetzt und behalten ihren Wert, bis ihnen im Laufe einer Reaktion ein neuer Wert zugewiesen bzw. der Wert modifiziert wird. Solche genealogische Variablen, deren Bezeichnung daherrührt, daß in ihnen Daten über den Entstehungsweg der Moleküle im Reaktionsnetzwerk gespeichert sind, können Angaben wie die Anregungsenergie oder Umlagerungszähler enthalten sein. Will man die Zahl der Umlagerungen begrenzen, kann man in einer solchen Variablen die Anzahl der konsekutiv durchgeführten Umlagerungen zahlen und bei Überschreitung der maximalen Zahl die Umlagerung aufgrund dieses Wertes verwerfen. Da diese Variablen Einfluß darauf haben, welche Reaktionen von diesem Aggregat ausgehen können, müssen gleiche Aggregate, die sich in den Werten der genealogischen Variablen unterscheiden, differenziert werden. Dies erfolgt dadurch, daß die genealogischen Variablen bei der Berechnung des Hashcodes [55], aufgrund dessen die Identität von Aggregaten festgestellt wird, mit verwendet werden.

5.2. Vorteile von RICOS bei der Reaktionsgenerierung

5.2.1. Reaktionen von Komplexen und Boranen

Da in RICOS nun auch Borane, -ionisierte Verbindungen, Aggregate wie Salze und Metallkomplexe dargestellt werden können, können in EROS7, das RICOS als chemische Datenstruktur verwendet, auch solche Verbindungen als Edukte und Produkte behandelt werden.

5.2.2. Keine Erzeugung von Grenzstrukturen

Da RICOS die konjugierten -Systeme als ganzes kodiert, müssen nicht mehr alle Grenzstrukturen einer Verbindung erzeugt werden. Damit entfallen der Aufwand der Bestimmung der Grenzstrukturen, die Probleme bei ihrer Generierung (siehe 4.5.2) und die mehrfache Durchführung von ein und derselben Reaktion inklusive der Schwierigkeiten bei der Selektion, welche Reaktion behalten werden soll. Daneben können mit RICOS auch die drei verschiedenen, n- und -ionisierten Acrylsäuren (Strukturen A bis C in Abbildung 74) unterschieden werden und von ihnen als verschiedene Strukturen auch getrennt Reaktionen erzeugt werden.

Abbildung 74: Drei Möglichkeiten der Ionisation von Acrylsäure, wenn man die Stereochemie der beiden freien Elektronenpaare am Carbonylsauerstoffatom vernachlässigt.

5.2.3. Steuerung des Reaktionsnetzwerks

Die genealogischen Variablen gestatten es, auf die Abfolge von einzelnen Reaktionstypen in einer Reaktionsfolge Einfluß zu nehmen. Speichert man bei jedem Aggregat, durch welchen Reaktionstyp es gebildet wurde, ist man in der Lage, den Reaktionstyp Y als Folgereaktion zu einer Reaktion des Typs X auszuschließen (siehe Abbildung 75).

Abbildung 75: Reaktionstyp Y ist nicht als Folgereaktion des Typs X erlaubt.

So können rein formal -Spaltungen nach einer Radikalzentren erzeugenden Reaktion wie der Halogenspaltung (Reaktionstypen siehe Abbildung 19 auf Seite 27) ausgeschlossen werden. Halogenspaltungen finden im Massenspektrometer erst statt, wenn das Kation bei der Ionisation nur wenig Anregungsenergie bekommen hat oder nach der Abspaltung größerer Fragmente durch die -Spaltung abgekühlt ist. Ohne diesen Ausschluß würde man eine Vielzahl unnötiger, inreaktiver Reaktionen erzeugen.

Aber auch die Anregungsenergie der Aggregate, zu der bei jeder Reaktion die Reaktionsenthalpie hinzugezählt wird und die auf die Produkte verteilt wird, kann dazu herangezogen werden, Reaktionen mit einer hohen Aktivierungsbarriere auszuschließen. In der Massenspektroskopie treten solche Reaktionen nur in den ersten Reaktionsebenen auf, da die Kationen mit den abgespaltenen Neutralfragmenten schnell an Anregungsenergie verlieren, die sie bei der Ionisation erhalten haben.



[Prev] [Next] [Home DissOnline]


Hoellering@CCC.Chemie.Uni-Erlangen.DE
Copyright © 1998, Höllering Universität Erlangen-Nürnberg. All rights reserved.